Landsberg, eine sehr besondere Stadt

Die kleine Stadt am Lech hält sich für ziemlich normal / Hier schrieb Hitler seinen „Kampf“ und waren 5.000 jüdische DPs nach dem Zweiten Weltkrieg kaserniert  ■ Aus Landsberg am Lech Anita Kugler

Ein Gedränge von Giebeln und steilen Dächern, Mauern und Wehrtürmen, ein zauberhafter Stadtplatz und eine wunderschöne Barockkirche – das ist Landsberg am Lech, die bayerische Kleinstadt an der Romantischen Straße, die wirklich so heißt. Eine Stadt, auf die nie eine Bombe fiel, und in der 1945 kein Einheimischer auf die Idee kam, zu behaupten, daß sie befreit wurde. Im Gegenteil. Für die meisten Landsberger fing die Unordnung mit der Errichtung eines Lagers für „Displaced Persons“ 1945 erst wirklich an.

Ein Ort wie jeder andere?

Dies zumindest meint der Rowohlt Verlag, der einen Fotoband mit diesem Titel herausgebracht hat. Ohne Fragezeichen! Am Dienstag wurde das Buch in Landsberg der Öffentlichkeit vorgestellt, die 150 Orginalfotos aus der Zeit von 1923 bis 1958 sind jetzt im Stadtmuseum zu besichtigen. Der Titel Ein Ort wie jeder andere soll „provozieren, zum Nachdenken anregen“, behaupten die Herausgeber, die Historikerin Edith Raim und Martin Paulus und Gerhard Zelger, alles gebürtige Landsberger, alle um 1960 geboren. Ob dieser Titel aber wirklich provoziert und nicht eher die Ereignisse banalisiert, ist sehr die Frage. Den Ton in diese Richtung gab bei der Ausstellungseröffnung der Oberbürgermeister der Stadt, Franz Xaver Rößle, an, indem er Landsberg als ein Opfer der Nationalsozialisten hinstellte, als eine Stadt, die von der deutschen Geschichte gebeutelt wurde.

Landsberg war eine sehr besondere Stadt, schon lange vor dem Krieg und erst recht danach. In seiner Festung schrieb Adolf Hitler 1923 unter sehr komfortablen Bedingungen „Mein Kampf“. Nach 1933 wurde sie zu einer nationalsozialistischen Wallfahrtsstätte, der braune Tourismus machte die Landsberger wohlhabend. „Zufall“, sagt der Oberbürgermeister, was kann Landsberg dafür, daß die Festung in der Weimarer Republik ein Gefängnis nur für rechtsradikale Agitatoren war. Nach dem Krieg erklärten die Amerikaner die Festung zum „War Criminal Prison Nr. 1“. Bis 1951 wurden im Hof des Gefängnisses 250 Todesurteil vollstreckt, unter anderen für Paul Blobel, verantwortlich für das Massaker in Babi Jar, aber auch für den Chef des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes, Oswald Pohl. „Zufall“, meint wieder der Oberbürgermeister, die Amerikaner „suchten und fanden mit der Festung einen symbolischen Ort“. Daß die Landsberger 1951 mit einer großen Demonstration gegen die Todesurteile protestierten, erwähnt er nicht.

Bei dieser Leseart, in der alle Geschichte von oben bestimmt wurde und man sich deshalb ganz unten individuell aus der Verantwortung herausmogeln kann, hört sich auch sein Bericht über die elf Konzentrationslager rund um Landsberg/Kaufering sehr distanziert an. Die „geologischen Bedingungen“ für die Errichtung von unteridischen Produktionsanlagen zum Bau des Kampfstreckenbombers Me 262 waren eben „leider sehr günstig“, sagt er. Kein Wort, daß hier etwa 30.000 jüdische KZ- Häftlinge unter grausigen Bedingungen arbeiteten, daß mindestens 14.500 von ihnen an Hunger, Kälte und Seuchen starben. Die am Bau beteiligten Firmen wie Leonhard Moll, Philipp Holzmann und Karl Stöhr verdienten an der KZ-Arbeit glänzend. Sie haben bis heute keinen Pfennig an „Entschädigung“ gezahlt. Für sie ist Landsberg ein Ort wie jeder andere.

Allerspätestens nach dem 27. April 1945 war es dies aber wirklich nicht mehr. Denn ab dieser Zeit entstand mitten in der Stadt, für jeden sichtbar und dies bis 1958, ein „jiddisches Schtedl“, genau genommen ein Ghetto innerhalb der Saarburgkaserne. Es war ein Lager für etwa 5.000 jüdische „Displaced Persons“, für Menschen also, die der Krieg heimatlos gemacht hatte, für Menschen, die hofften, bald eine neue Heimat zu finden. In Palästina oder in den USA. In den Zeitungen von Landsberg war darüber zu lesen, daß die Juden den Typhus in die Stadt eingeschleppt und die Moral duch Schwarzhandel verdorben hätten. Der Antisemitismus existierte auch in der amerikanischen Armee. Denn General Patton war es gewesen, der die Deutschen vor den Juden schützen wollte und die DP-Lager deshalb mit Stacheldraht umzäunen ließ. Als Major Irving Heymont im September 1945 die Leitung des Lagers übernahm, ließ er den Stacheldraht abreißen und die amerikanischen Wachposten abziehen. „Ein amerikanisches DP- Lager durfte doch nicht an ein deutsches Konzentrationslager erinnern“, berichtete er jetzt in Landsberg. Seine detaillierten Berichte über das schwierige Verhältnis von Stadt und Lager enthält der Rowohlt-Fotoband, ein aufregendes Zeugnis.

Daß gerade dieses Nebeneinander von DPs und Landsberger Bürgern heute noch eine unversöhnliche Erinnerung ist, zeigte sich ebenfalls an diesem Abend. Bernhard Marx, damals 13 Jahre alt und gerade befreiter jüdischer Zwangsarbeiter, wurde im Juni 1945 beim Zigarettenhandel erwischt. Wegen Schwarzmarktgeschäften steckte ihn die deutsche Polizei fünf Tage lang in das Festungsgefängnis. Im obersten Stock saß Alfred Krupp, im untersten Bernhard Marx. „Der Schwarzmarkt war eben kriminell“, meint ein Ausstellungsbesucher ungerührt. Auf die Frage, warum damals fast nur Juden und keine Deutschen verhaftet wurden, weiß er keine Antwort. Dabei hätte er wie kein anderer sie selbst geben können, denn der Ausstellungsbesucher war damals Polizist gewesen. Die Deutschen konnten Kaution bezahlen und ihre Pässe bei der Polizei hinterlegen, die Juden aus begreiflichen Gründen aber nicht.