■ Vorlesungskritik
: Performance im Hörsaal

In dieser Kolumne über einen Auftritt Marcel Reich-Ranickis zu schreiben, erscheint ein wenig deplaziert. Mit dem Wort „Vorlesung“ lassen sich die Darbietungen des Literaturkritikers kaum treffend bezeichnen, selbst wenn sie im akademischen Milieu stattfinden. Das 19. Jahrhundert hätte die Kombination aus Sprache und Intonation, Gestik und Mimik wohl als Gesamtkunstwerk bezeichnet. Heutzutage nennt man so etwas Performance.

Die Lautsprecheranlage, auf die Flüsterstimme deutscher Professoren geeicht, war hörbar überfordert. Reich-Ranickis Organ vermochte sie nur mit starkem Kratzen und Zischen wiederzugeben. Wenn er von den „grausamen Demütigungen“ sprach, die keinem deutschen Juden erspart geblieben seien, machte er ein Gesicht, als sei ihm eine solche gerade widerfahren. Gestand er am Schluß, daß in der Musik seine „private Liebe“ Mozart gelte, zeugten seine Züge von orgiastischer Entrückung. Das Auditorium im überfüllten, größten Hörsaal der „Silberlaube“ riß er damit zu Begeisterungsstürmen hin, die an diesem Ort eher ungewöhnlich sind.

„Die verkehrte Krone. Über Juden in der deutschen Literatur“ war das Thema, den Titel eines seiner wichtigsten Bücher, „Über Ruhestörer – Juden in der deutschen Literatur“, geringfügig abwandelnd. Entsprechend enzyklopädisch handelte er es ab. Es wurde ein bildungsbürgerlicher Rundumschlag, wie das Publikum ihn von den Heroen der deutschen Literaturkritik gewohnt ist.

Von der Aufklärung bis zum Holocaust reichte der Bogen, ein Name-dropping von Moses Mendelssohn und Rahel Varnhagen bis zu den Klassikern der Moderne. Wie gewohnt, sparte der Redner nicht mit starken Worten. Auch wenn es den jüdisch-deutschen Autoren „an Siegen, an wahren Triumphen“ nicht fehle, sei das Kapitel „so düster wie deprimierend, eine Leidensgeschichte ohnegleichen“. Ihnen allen habe ihre Identität „schmerzhafte Schwierigkeiten“ bereitet, von Heinrich Heine, der sich heimlich taufen ließ, bis Franz Kafka, der die „klassischen Gleichnisse von der Entfremdung und Vereinsamung des Individuums“ formuliert habe, „ohne das Wort Jude zu verwenden“.

Hat also die vielzitierte „deutsch-jüdische Kultursymbiose“ überhaupt existiert? „Die Ergebnisse gibt es. Sie sind erstaunlich und wunderbar zugleich.“ So ist es wohl auch kein Zufall, daß die beiden deutschen Literaturpäpste, Reich-Ranicki und Hans Mayer, aus jüdischen Familien stammen. Ebenso bezeichnend ist es, daß beide nicht Literaturwissenschaft studiert haben. Das sagt einiges über den Zustand des Fachs. Entsprechend blaß wirkte dessen Vertreter Gert Mattenklott, der mit der Präsentation des Gastredners dem Fachbereich noch einmal zeigen konnte, welchen Glücksgriff er mit seiner umstrittenen Berufung getan hat. Über seine Einführung gab es in der Tat wenig mehr zu sagen, als der Vorlesungskritiker aus der Reihe hinter sich vernahm: „Einen gut sitzenden Anzug hat er ja, aber die Krawatte ist häßlich.“ Ralph Bollmann