Die Schweineohren sind ab

■ Niedergang der Industrie in Westberlin: Der Wegfall der Berlinförderung hat großen Anteil am Verschwinden von Betrieben / Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften suchen neue Töpfe

Es riecht nach frischem Kuchen. Doch das ist gleichgültig. Nach zehn Jahren Arbeit muß es dem Teigmischer einfach stinken. Werner Eggert, 51, im weißen T-Shirt, blickt mit müden Augen in die beiden 350-Kilogramm-Kessel und rührt mit Hilfe eines Knetarms den Teig an. Immerhin arbeitet er in der Tiefkühltorten-Produktion und hat noch einen Job bei der Heinersdorfer Backwaren GmbH, die im Westteil der Stadt schon die Geschäfte schloß. Weil Subventionen für Berlin-West wegfielen, ging die Firma nach Ostberlin, das noch Fördergelder erhält.

Seit dem Fall der Mauer sind rund 50.000 Menschen im Westteil Berlins arbeitslos geworden und schwer vermittelbar, da sie einfachste Arbeiten wie das Teigmischen oder das Verpacken ausgeführt haben. Zum erheblichen Teil wurden sie arbeitslos, weil die Wirtschaftsförderung für Westberlin ausgelaufen ist.

Mit den fetten Jahre der Berlinförderung war es ab 1995 vorbei. Eine Kürzung aus dem Bonner Steuersäckel, die Berlin im Nerv traf: Wegfall der Arbeitnehmerzulage (10 Milliarden Mark jährlich), Streichung der Berlinförderung (jährlich 15 Milliarden), Streichung der Zuschüsse für den Berliner Haushalt (30 Milliarden seit 1989), Wegfall der Subventionen bei Post, Fernmeldeverkehr, Flugverkehr und etwa bei Umzugshilfen (seit 1989 rund 70 Milliarden). So addiert der SPD-Politiker Ditmar Staffelt die Berliner Opfer auf insgesamt 120 Milliarden Mark und wirft der Bundesregierung vor, die Hauptstadt kaputtzusparen.

Noch 1990 hatte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) dem damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, zugesagt, die Berlinförderung erst in sieben Jahren nach und nach abzubauen. Doch davon wollte der Bonner Finanzminister bald nichts mehr wissen. Die Bonner strichen die Gelder in vier Jahren zusammen. Auch saß in der Großen Berliner Koalition mit Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) nicht der Verhandlungspartner, der einen langsamen Abbau der Subventionen hätte durchsetzen können. Sprach er doch davon, daß Berlin lernen müsse, auf eigenen Beinen zu stehen. Nun wankt Berlin.

Die Folge: Die „lila Pause“ von Milka ist in Berlin geschmolzen – das Suchard-Werk dicht und 480 Arbeitsplätze gingen verloren. Der Kakao- und Kaffee-Hersteller Van Houten entließ 300 Arbeiter. Der Zigarettenproduzent Rothmann wickelt gerade sein Werk ab – 500 Arbeiter verloren ihren Job. Die Kaffeeröstereien sowie die Zigaretten- und Lebensmittelindustrie sind besonders kapitalintensiv und haben viel über Abschreibungen verdient. Diese Branchen trifft der Abbau der früheren Subventionen besonders hart.

Die Zigarettenproduzenten Reynolds und Philip Morris haben im Unternehmen Produktionspaletten umgeschichtet und daher nicht geschlossen – sie sind große Unternehmen, welche die fehlenden Gelder auffangen konnten, indem sie interne Strukturen veränderten.

Früher war die Textilindustrie mit 4.000 Beschäftigten in Westberlin stark vertreten. Doch sie hing am Tropf der Berlinförderung. Nun arbeiten nur noch 1.200 Menschen in dieser Branche. „Zwei Drittel der Textilindustrie sind kaputt“, wie Wolfgang Schmidt, Geschäftsführer des Berliner Textilverbandes, sagt.

Sie alle labten sich an den Subventionen, die Berlin im Insel- Kampf im „Roten Meer“ erhielt. Wege, an die Gelder heranzukommmen, gab es viele: So wurden Schweinehälften in der Stadt „veredelt“, indem ihnen die Ohren abgeschnitten und Qualitätsstempel aufgedrückt wurden. Angeliefert aus dem Westen, wurden sie dort auch verkauft. Dafür erhielten Unternehmer die sogenannten Hersteller- und Abnehmerpräferenzen, einen Steuernachlaß, weil sie Produkte in Berlin bearbeiteten und in den Westen verkauften. Einen gesunden Markt schaffte die Berlinförderung somit nicht. Aber sie half den Menschen in der Stadt, zu überleben.

1950 wurde das Gesetz zur Förderung der Wirtschaft von Berlin (West) erlassen. Es hatte die Aufgabe, den Standortnachteil auszugleichen, indem es Lieferungen aus Berlin von der Umsatzsteuer befreite. Weitere Gesetze zur Berlinförderung 1964 und 1978 bewahrten Berlin vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Nun ist Berlin eine normale Stadt geworden, sagen sich die Bonner, die die Förderung schnellen Schrittes abbauten, denn die Berliner bräuchten die Gelder nicht mehr für den ideologischen Überlebenskampf.

Nun sollen High-Tech-Unternehmen in Berlin angesiedelt werden. Doch High-Tech ist ein Scheinbegriff aus dem politischen Raum, der nicht hält, was er verspricht. Die Herstellung von Kaffeekannen in automatisierten Werken beispielsweise gilt schon als High-Tech, und Arbeitsplätze bringen solche „modernen Industriebereiche“ kaum. Das Hoffnungsinstitut „Wirtschaftsförderung GmbH“ gibt außerdem zu, daß es schwerer sei, produzierende Industrien in Berlin anzusiedeln als Dienstleistungsunternehmen. Für die vielen ausländischen Arbeitnehmer kommen die Dienstleistungsbetriebe jedoch zu spät. Zudem verlangen diese Firmen ein völlig anderes Arbeitsprofil, als die Arbeiter ausfüllen können.

Berliner Politiker forderten den langsamen Abbau der Berlinförderung. Alle klagen über den „schnellen Wegfall der Subventionen“ für Westberlin. Nun fordern die Politiker sie wieder. Aus Verzweiflung haben Politiker, Unternehmer und Gewerkschafter in einem Papier die „Einbeziehung der westlichen Stadtbezirke Berlins in die Fördermaßnahmen des Bundes und der Europäischen Union, die für die neuen Länder gelten“ verlangt.

Dabei „fressen“ die Gewerkschafter sogar Fliegen und unterstützen die Forderung nach Investitionszulagen – Gelder, von denen die Gewerkschaften nicht glauben zu wissen, daß sie Arbeitsplätze schaffen. Daran läßt sich die „prekäre Situation“ Berlins (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) ermessen.

Das Merkwürdige am Dahinsiechen der Wirtschaft, so die Einschätzung der Industrie- und Handelskammer, sei, daß Berlin „einer der besten Standorte Deutschlands ist“. Vier Millionen Menschen kauften hier ein. Das bedeute eine enorme, wenn auch stagnierende Kaufkraft. Westberlin verfüge nicht über genügend qualifizierte Industriearbeiter, in Ostberlin gebe es dagegen viele. Dennoch verkleinern Unternehmer ihre Betriebe, auch um an Fördergelder für kleine Einheiten zu kommen. Sie lagern Produktionsstätten aus und gehen in sogenannte Billiglohnländer, wo eine Arbeitsminute 10 Pfennig kostet.

Doch, zynischer Trost für Menschen ohne Arbeit, die weggefallenen Subventionen treffen auch die Reichen. Bei einem Jahreseinkommen von 360.000 Mark wurde ein Manager mit 26.000 Mark subventioniert, ein Facharbeiter hingegen mit einem Jahressalär von 50.000 Mark bekam nur 2.500 Mark. Die Westberliner, die über Einnahmen von mehr als 250.000 Mark verfügen, und von ihnen gibt es etwa fünftausend, kriegen auch nichts mehr vom Förderkuchen ab. Rafael Pilsczek