Das Buch zum Streit

Der Soziologe als Konfliktreisender: Claus Leggewies Generationsportrait der 89er hält Basiskontakt zu den Befindlichkeiten – und gibt Entwarnung  ■ Von Harry Nutt

Die von Zeit zu Zeit in den Feuilletons wogenden Kulturdebatten beziehen ihren Unterhaltungswert aus der Unbestimmtheit des jeweiligen Gegenstands. Es kommt auf Anschlußfähigkeit an. Zu wechselnden Anlässen wird die Gültigkeit von Diskurshoheiten überprüft. Bekannte Sprecher bekräftigen angestammte Rechte, und neue greifen ein in den Kampf um begrenzte Redezeit. Beim abgeklungenen Streit um die Postmoderne wurde nicht zuletzt mit französischem Zungenschlag der Sound der Frankfurter Deutungsmacht attackiert. Hinter dem gegenwärtigen Gekrächze um die „selbstbewußte Nation“ stehen vermutlich ähnliche Artikulationsbegierden. Da liegt es nahe, gelegentlich auch das Alt-Jung- Schema durchzudeklinieren.

Palaver über nichts- nutzige Jungmenschen

Das Geraune um die 89er begann im Leserkreis. Ulrich Greiner, schreibender Feuilleton-Chef der Zeit, zieh jüngere, keineswegs mehr junge Kritikerkollegen des Generationenhasses. Von Vatermord war die Rede, und im Gegenzug erfuhr man, wie tüchtig junge Menschen bisweilen sein können. Die Pointe, ein Lob der findigen Zeit-Graphik, besteht vielleicht darin, daß 68 auf dem Kopf aussieht wie 89. Das legitimiert Bilanzen und die allmähliche Vorbereitung auf den Ruhestand auf der einen, ein wenig trotzige Gebärde auf der anderen Seite.

Nun also das Buch zum Streit, der schon abgebrochen schien. Einmal mehr erweist sich Claus Leggewie als eiliger Geist der Soziologie, der Ordnung ins begriffliche Durcheinander bringt. Seine 89er sind nicht die von Greiner gerügten Kritiker und schon gar nicht verschwurbelte Neonationalisten. Es ist die Gruppe der 13- bis 30jährigen, so Leggewie, aus der die Generation der 89er hervorgehen kann. Sie erfüllen die Kriterien für eine ordentliche Generation, wie sie die Generationsforschung unter Berufung auf Karl Mannheim aufgestellt hat: „Das historische Schlüsselereignis, das Mutationspotential neuer Leitideen und Wertorientierungen, die politische Krise“.

Aus all dem könnte eine politische Generation reifen, muß aber nicht. Die lange bundesrepublikanische Prosperitätsphase hat unter dem weiten Mantel der Selbstverwirklichung die Kleiderordnung radikal verändert. Vieles paßt zu vielem. Wer Verständnisschwierigkeiten mit Techno, Rap und Rave hat und Generation X für eine Hemdenfirma für Übergrößen hält, der wird bei Leggewie besser beraten als in einem eben erschienenem Handbuch von jungen Autoren über die Jugend der 90er. Der Soziologe hält Basiskontakt und gibt Entwarnung. Die Jugend von heute ist gar nicht die, vor der uns unsere Eltern gewarnt haben. Die immerwährende Jugendkonferenz, so Leggewie, vergewissert sich im Palaver über nichtsnutzige Jungmenschen des eigenen erfolgreichen Alterns.

Anspruch auf Vorrednerschaft

Schluß mit dem Theater, ruft der verständige Szenebeobachter. Wo der Juvenilitätswahn noch im Rentenalter seine Blüten treibt, werden die Jungen ihrer Junioritätsrechte beraubt. In Kurzportraits von Personen dieser Altersgruppe skizziert Leggewie ein freundliches Bild der Kohorte, die auf widersprüchliche Weise in Individualisierungsstrategien verstrickt ist. Der Bogen ist weit gespannt. Man wird mit der postfamiliären Familie vertraut gemacht und erfährt, wie man in der Bronx überleben kann. Eine plötzliche Erbschaft muß genauso verkraftet werden wie der Übertritt ins Unternehmerdasein. Statt bei kleingeistigen Ost-West-Befindlichkeiten zu verweilen, weiß Leggewie auch, wie es andernorts im feindlichen Leben zugeht. Er schildert den Alltag von Ahmed H. (21) im unsicheren Algier und läßt Neven S. (32) auftreten, seinen bosnischen Guide während des Aufenthalts in Sarajevo. Der Sozialwissenschaftler als Konfliktreisender. Was hier als schnoddrige Aufzählung einen pejorativen Klang hat, diskutiert Leggewie fraglos mit nötigem Ernst. Es geht um die Politik der nächsten Jahre und die Frage, wie diese Generation darauf vorbereitet ist. Es könnte sein, daß schon bald manch linksliberale Bundestagsrede nach Leggewies Deutungen gefertigt wird. Die Schieflage des bundesrepublikanischen Altersaufbaus wird ein Dauerbrenner künftiger sozialer Auseinandersetzungen sein. Ob eine Partei der Jungen das Profil der Berliner Republik prägen kann, wie Leggewie empfiehlt, sei einmal dahingestellt. Skepsis ist angebracht, wenn er den Ausbau der Datenautobahnen als Demokratisierungschance beschreibt. Letztlich sind technische Innovationen selten so in Gebrauch genommen worden, wie es Gesellschaftswissenschaftler vorgeschlagen haben.

Leggewies 89er-Buch ist über weite Strecken ein unaufgeregter und anregender Essay über das Profil künftiger Politik. Aber er kommt anders daher. Der plakative Teil und die auf Pep setzende Konstruktion des Buches beanspruchen Vorrednerschaft auf der Jugendkonferenz, die der Autor doch zu beenden trachtete. Aber so geht's den meisten Diskursaussteigern. Am Ende landen sie in der Wissenschaftsgeschichte.

Claus Leggewie: „Die 89er. Portrait einer Generation“. Hoffmann und Campe, Hamburg 1995, 336 Seiten, 34 DM.