Kleine Keimzeitwelt

Eine Band, wie es sonst keine gibt: Keimzeit geben dem Ostler, was er braucht, und machen das Fantum zum herzlichen Familienerlebnis  ■ Von Thomas Winkler

Im sächsischen Ebersbrunn ist nur ein- oder zweimal im Jahr was los. Dann baut eine Band im Gasthof „Zum Löwen“, einem Prachtbau des DDR-Barocks der 60er Jahre mit der Atmosphäre einer Grundschulmensa, auf der Bühne ihre Verstärker und Instrumente auf. Die anwesenden Biertrinker und Biertrinkerinnen lassen sich nicht stören und trinken weiter ihr Bier. Später füllt sich der Saal, viele sind von weit her angereist. Das Konzert ist ausverkauft, aber manche Dinge sind anders als auf anderen Konzerten. Wenn die Band „Kling-Klang“ spielt, den einzigen Hit unter den vielen Fan-Hymnen, der es zu regelmäßigen Radioeinsätzen gebracht hat, trennt sich die Spreu vom Weizen. Die eigens wegen dieses einen Songs Gekommenen jubeln frenetisch und ernten indignierte Blicke vom harten Kern. Wenn die Band nach der letzten Zugabe nicht von der Bühne geht, sondern sich unters Publikum mischt, hat sie vier Stunden gespielt. Hinten an den Tischen sitzen immer noch die Biertrinker, aber schon längst gibt es auch Schnaps. In ganz Ebersbrunn kündete nur ein einziges Plakat, neben der Tür des „Löwen“, davon, daß Keimzeit an diesem Abend spielen.

Keimzeit sind „eine Kultband“ (Der Tagesspiegel), „eine Sensation“ (NMI-Messitsch), ein „ostdeutsches Rockphänomen“ (Erfurt aktuell) oder einfach „eine Ostband“ (Eigenbezeichnung). Aber eigentlich sind Keimzeit nicht einmal eine Band, eher eine Familie, in der Musiker, Techniker, Manager und Fans inniglich miteinander verknüpft sind. Alles begann in Belzig, einer kleinen Stadt im Brandenburgischen. Die Geschwister Leisegang, drei Brüder und eine Schwester, gründeten Keimzeit vor ungefähr zwölf Jahren, so genau weiß das niemand mehr. Man spielte Blues-Standards oder Songs von Janis Joplin. Norbert Leisegang begann eigene Lieder zu schreiben, die nach und nach die Coverversionen ersetzten. Das Spielen wurde zur Sucht, auf der Bühne funktionierte die Familie noch perfekter. Dann kamen die Probleme. Die in der DDR unverzichtbare Einstufung, die man benötigte, um auftreten zu dürfen, wurde ihnen verweigert. Die Kulturkommission, vor der sie spielen mußten, fand immer die nötigen Gründe. Leitern von Jugendklubs wurde nahegelegt, die Band nicht auftreten zu lassen.

Aber sie waren keine Aufrührer, nicht ihre Texte, nicht ihre Musik, machten die Wahrer der sozialistischen Werte nervös, sondern ihre schnell wachsende und im DDR-Standard recht verlotterte Gefolgschaft. Die gab sich nicht damit zufrieden, daß ein Konzert irgendwann einmal zu Ende ist, sondern feierte in nahe gelegenen Kleingartenkolonien weiter und störte so die sozialistische Ordnung. Und die Band feierte mit.

Noch heute, nach drei erfolgreichen Platten, schert sich die Band nicht darum, ob Bootlegs gemacht werden. Noch heute verbieten sie ihrem Manager, während einer Tournee Hotels zu buchen. Geschlafen wird bei alten Freunden, neuen Fans oder einfach auf der Bühne. Meistens aber wird die Landkarte herausgeholt und der nächste See angesteuert. Und an der Küste ist der Weg zum Strand niemals zu weit. Wer jetzt „Hippies“ denkt, liegt gar nicht falsch. Sie hassen den Vergleich mit einer gewissen Combo aus San Francisco, aber wer da nicht selbst drauf kommt, kennt Grateful Dead halt einfach nicht.

Auch wenn die Besetzung nicht mehr dieselbe ist – Schwester Leisegang hat die Band aus familiären Gründen verlassen, der Keyboarder ist nach zehn Jahren gegangen, weil er mal „was anderes machen“ wollte –, haben sich doch viele Rituale eingespielt, die sie partout nicht aufgeben wollen. Die Band spielt fast das ganze Jahr über live, nur zwei, drei Wochen im Jahr haben sie keine Termine. Die Woche hat einen exakten Rhythmus: Dienstags wird geprobt, Mittwoch bis Samstag wird aufgetreten, am Sonntag fährt eine Hälfte gemütlich zurück und die andere widmet sich den Kindern. Und am Montag haben auch heute noch im Osten viele Bäcker den Laden geschlossen. Manche Dinge ändern sich nie, Keimzeit ganz bestimmt nicht.

Livespielen ist ihr Leben, das Plattenmachen ein „positives, aber notwendiges Übel“, glaubt Ingo Dietrich, der die Band seit zweieinhalb Jahren managt und schon lange vergessen hat, warum ihn alle „Hugo“ nennen. Aber auch er gehörte schon länger zur Familie. Seit seiner Zeit beim DDR-Rundfunk, für den Keimzeit hin und wieder aufgenommen haben, kennt er die Band. Er selbst nennt sich „Schichtleiter“, und nicht selten kommt ihm ein Satz wie „Ich versteh's ja auch nicht“ über die Lippen. Die Musikanten machen es ihm nicht gerade leicht: „Die wissen, sie müßten eigentlich für die neue Platte was machen wie ,Kling-Klang‘. Und weil sie das wissen, machen sie es eben nicht.“ Der Schichtleiter registriert eine „Scheu“ bei der Band, erfolgreich zu werden, und „Ängste, die heile Welt, die sie sich aufgebaut haben, aufgeben zu müssen“.

Auch heute noch residiert die Band in Belzig, den Weg ins kulturelle Zentrum, die ehemalige Hauptstadt der DDR, hat man im Gegensatz zu vielen anderen nie gefunden, nicht einmal gesucht. Glaubt man Dietrich, wäre übermäßiger Erfolg, der notwendigerweise Zwänge mit sich bringen würde, „sicher der K.o.“ für die Band. Aber damit das passiert, müßte schon ein „dummer Zufall“ helfen.

Bleibt die Frage, ob sie den ganz großen Erfolg auch weiterhin werden verhindern können. Ob ihre noch zu DDR-Zeiten antrainierte Verweigerungshaltung sie davor retten wird, doch einmal die Kontrolle über Keimzeit und damit ihr Leben zu verlieren. Fernsehauftritte haben sie kaum, weil man sich keinen ganzen Tag ans Bein binden will, um einen einzigen Song zum Vollplayback zu mimen und sich hinterher noch dumme Fragen zur Schuhmode der Fans anhören zu müssen – nur weil das Gerücht umgeht, Freunde der Musik von Keimzeit würden sich prinzipiell auf „Römer-Latschen“ fortbewegen. Allzu nervtötende Promotion- und Repräsentationspflichten werden durch ein von Freunden der Band durchsetztes Manager-Promotion-Label-Netzwerk schon vorher gefiltert und notfalls geblockt.

Das Problem stellte sich noch nicht, als der Erfolg noch auf den Osten beschränkt blieb. Nirgendwo funktionierte die Mauer in den Köpfen so gut, wie bei der Rezeption von Keimzeit. Waren sie anfangs eine Band, deren Anhängerschaft im Osten immer weiter wuchs, nahm man im Westen so gut wie keine Notiz von ihnen. Warum das so war, ließ sich leicht erklären: Die Musik von Keimzeit war und ist so unspektakulär, daß sie in einem Radioprogramm von heutzutage zwischen all diesen überproduzierten Knallern einfach ungehört davondudelt. Man muß schon sehr aufmerksam sein, um sich wirklich hineinzuhören in dieses locker groovende, sehr dichte, meist nur hingetupfte Geflecht aus Folk, dezentem Rock, ein wenig Blues und Soul. Aber dann hört man, daß der scheinbar längst überholte Ansatz von der Band als einer homogenen, sich selbst genügenden Produktionseinheit, in der das Ergebnis mehr ist als die Summe der Einzelteile, noch einmal ganz wundervoll funktioniert.

Nur die quengelnde Stimme von Norbert Leisegang bietet einen markanten Anhaltspunkt – allerdings nicht für Westohren. Diese Unaufdringlichkeit korrespondiert mit der Mentalität vieler ehemaliger DDR-Bürger, die sich abgestoßen von der angeblich so dreisten Art ihrer Brüder und Schwestern aus dem Westen nicht nur der heimeligen Nettigkeit von Keimzeit, sondern auch vermehrt den Erinnerungen aus der eigenen Vergangenheit zuwenden: City, Silly und die Puhdys spielen auf Festivals in Neufünfland vor Zehntausenden von Menschen.

Ähnliches gilt für die Texte von Norbert Leisegang, die sich allzuoft in Metaphern und Bildern verlieren. Lust darüber zu reden, hat er – sichtlich genervt nach einem für die Band noch nie dagewesenen Marathon von 50 Interviews – eigentlich nicht mehr. Und „dieses Ost-West-Ding langweilt“ ihn sowieso. Kryptisch verweigern sich auch seine Texte jeder konkreten Aussage, lassen als Projektionsfläche alle Freiheiten, ohne zu drängen. Wo Tempo „verblasene Lyrik“ registriert, sieht der Ostler, der es gelernt hat, zwischen den Zeilen nach der Wahrheit zu suchen, in diesen nichtfordernden Reimen einen Beweis für Ehrlichkeit, Vertrauen und für Freundschaft, die ihm von der Band angeboten wird – die aber auch nicht enttäuscht werden kann, weil sich Leisegang immer wieder ums Konkrete drückt.

Wegen seiner inzwischen legendären Zeile „Irre ins Irrenhaus, die Schlauen ins Parlament“ wurde Leisegang fast zum Propheten, dabei entstand der Song lange vor der Wende. Tatsächlich kommen die Worte, so gibt er zu, „heraus aus bestimmten Gefühlen“, und meist sucht der „notorische Poet“ (Tempo) nur nach „einem guten Klang“, ganz ohne Hintersinn, die Bedeutung kommt erst an zweiter Stelle. Immer wieder ist von Wasser, vom Meer, von Schiffen, von Kapitänen und Matrosen die Rede, der Weg nach draußen ist nur eine Sehnsucht, die nicht erfüllt werden soll. Und auch nicht erfüllt werden muß, solange die kleine Welt noch funktioniert.

Aber die kleine Keimzeitwelt dehnt sich nach Westen aus. Zuerst waren es nur westwärts gewanderte Studenten, die bei der Organisation von Uni-Feten dafür plädierten, doch diese Band aus ihrer alten Heimat mal einzuladen. Beim ersten Auftritt in Braunschweig reisten drei Busladungen mit Keimzeit-Fans aus Magdeburg an und waren noch recht allein in der Fremde. Aber das Verhältnis pendelt sich inzwischen ein, auch ihre spärlichen Auftritte im Westen sind inzwischen gut besucht, und die Exilanten stellen einen immer geringeren Anteil am Publikum. Für die neue Platte „Primeln & Elefanten“ lassen sie sich erstmals zumindest in Ansätzen auf die Mechanismen des Geschäfts ein, wenn auch hauptsächlich deswegen, um die Plattenfirma, die diesmal ein besseres Studio finanziert hat, nicht reinzureiten.

Aber daß Keimzeit zu wirklichen Popstars werden könnten – da ist dann doch das penetrant Unglamouröse ihrer Erscheinung vor. Sie könnten Kling-Klänger im Dutzend schreiben und sich von Trevor Horn produzieren lassen, zumindest die zotteligen Bärte, die Lehrerbrillen, die labbrigen Jeans und verwaschenen Sweat-Shirts werden sie bis auf weiteres davor schützen, Belzig und ihre kleine heile Welt dort verlassen zu müssen.

Keimzeit: „Primeln & Elefanten“, K&P Music/BMG

Tournee: 28.4. Ebersbrunn, 29.4. Hörlitz, 2.5. Record-Release- Party in Berlin, 4.5. Wuppertal, 5.5. Mühlheim, 8.5. Freiburg, 9.5. Bonn, 14.5. Frankfurt/Main, 17.5. Kiel, 19.5. Neubrandenburg, 20.5. Altdöbern, 22.5. Leipzig, 7.6. Potsdam, 8.6. Gera, 9.6. Riesa, 10.6. Spremberg, 14.6. Greifswald, 15.6. Waren-Müritz, 16.6. Bad Doberan, 17.6. Schwerin, 21.6. Leipzig, 22.6. Chemnitz, 23.6. Quedlinburg, 24.6. Kamenz, 25.6. Wandersleben, 28.6. Merkers, 29.6. Berlin, 30.6. Cottbus, 1.7. Belzig, 17.8. Guben, 18.8. Bernburg, 19.8. Stollberg/Harz, 24.8. Biebersdorf, 25.8. Bischofswerda, 26.8. Potsdam, 31.8. Hoyerswerda