Türkische Politiker setzen gezielt antiarmenische Ressentiments ein

■ Nur kleine linke Verlage durchbrechen das offizielle Tabu

Istanbul (taz) – Als aus dem Publikum die Frage nach dem Völkermord an den Armeniern aufgeworfen wird, knistert es im Saal. „Was erwarten sie denn als Antwort?“ fragt der armenische Schriftsteller Migirdic Margosian die Türkin, die die Frage gestellt hatte. „Können sie nicht zwischen den Zeilen lesen? Soll ich es auch noch rot unterstreichen?“ Auch die Mitglieder der Minderheitenkommission des „Vereins für Menschenrechte“, die in Istanbul zu diesem literarischen Abend mit Margosian eingeladen haben, sind verärgert. „Heute geht es um Literatur. Außerdem ist der Völkermord nicht das Problem der Armenier, sondern das Problem der Türken.“ Selbst unter den rund 100 anwesenden Menschenrechtsaktivisten und Linken ist man sich im Umgang mit dem Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges nicht einig.

Auch achtzig Jahre nach dem Völkermord sind Armenier in der Türkei Diskriminierungen ausgesetzt. „Für mich ist es eine Art geistige Folter, wenn die Politiker im Fernsehen davon reden, daß die Türkei ein muslimisches Land sei“, berichtet Margosian. Als Giauvuren, als Ungläubige, werden Armenier in der türkischen Gesellschaft angesehen. Zwar sind sie türkische Staatsangehörige, die entsprechend des Friedensvertrages von Lausanne aus dem Jahre 1923 auch Minderheitenrechte genießen. Es gibt armenische Kirchen, Schulen und Zeitungen. Doch die türkischen Politiker und Medien greifen immer wieder antiarmenische Stereotype auf, nach denen „der Armenier“ feige, hinterhältig und böse ist. In der Türkei wird die Legende aufgebaut, daß historisch die Armenier die Türken verraten und verkauft hätten. Täter- und Opferrolle werden so vertauscht.

Ähnlich dem Antisemitismus in Europa schlummert in der türkischen Gesellschaft eine latente Feindschaft gegenüber den Armeniern. Die Herrschenden kennen diese Ressentiments sehr wohl und greifen sie in der Tagespolitik auf. Im Propagandakrieg gegen die kurdische Guerillaorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) wird immer wieder hervorgekehrt, daß getötete Guerilleros nicht beschnitten gewesen seien. Dies soll zu der Schlußfolgerung verleiten, der getötete „Terrorist“ sei kein muslimischer Kurde, sondern ein christlicher Armenier gewesen.

„Das dreckige Bündnis“ lautete vor mehreren Monaten die Schlagzeile des Massenblatts Sabah (Der Morgen). Dazu wurde ein Foto von der Begegnung eines christlichen Priesters mit PKK-Chef Abdullah Öcalan veröffentlicht. Diese Medienhatz sollte suggerieren, daß die PKK und die Armenier unter einer Decke steckten. Auch der Umstand, daß der Priester in Wirklichkeit kein Armenier, sondern Assyrer war, störte die Schreibtischtäter nicht. Nach dieser Veröffentlichung sah sich der armenische Patriarch in Istanbul genötigt, eine Pressekonferenz abzuhalten. „Wenn ein Türke als Mitglied der PKK festgenommen wird, beschuldigt ja auch keiner die ganze türkische Nation“, sagte er.

Mit pseudowissenschaftlichen Konferenzen versucht sich der türkische Staat gegen den Vorwurf des Völkermordes zu wehren. Gestern ging in der ostanatolischen Stadt Igdir ein Symposium mit dem Titel „Die historische Wahrheit und die Armenier“ zu Ende. Die Referate trugen Titel wie „Die Massaker der Armenier im Lichte osmanischer Archivquellen“ oder „Der Terrorismus der Armenier gegen unser Kulturgut“. Die Tabuisierung der tatsächlichen Ereignisse des Jahres 1915 ist perfekt.

Nur der Mut kleiner, linker türkischer Verlage bringt etwas Licht in die staatlich verordnete geschichtliche Finsternis. Der Istanbuler Verlag Belge veröffentlichte „Das armenische Tabu“ von Yves Ternon. Das Buch wurde beschlagnahmt. Die Verlegerin Aysenur Zarakolu wurde wegen der Veröffentlichung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Begründung des Staatssicherheitsgerichtes, das die Verlegerin aufgrund des „Anti-Terror-Gesetzes“ verurteilte, ist befremdlich. Zarakolu betreibe „rassistische Propaganda“, hieß es. Doch trotz der Gefängnisstrafe ist die Verlegerin nicht kleinzukriegen. Der Verlag veröffentlichte daraufhin auf türkisch das Buch des Armeniers Vahak N. Dadrian mit dem Titel „Genozid“, das zuvor in den USA erschienen war. Vor zwei Wochen wurde das Buch beschlagnahmt. Ömer Erzeren