Appell an Politiker: Nicht nach Moskau

■ Aufruf an die Staatschefs der Welt, wegen Tschetschenien nicht an den Feierlichkeiten in Rußland zum Kriegsende teilzunehmen

Berlin (taz) – „Die Schande“ lautet der Titel eines Aufrufs, in dem über 150 meist französische Intellektuelle die Staatschefs der Welt auffordern, wegen des russischen Krieges in Tschetschenien den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Sieges über den Faschismus am 9. Mai in Moskau fernzubleiben. Wörtlich heißt es in dem kurzen Text, der an Deutlichkeit wahrlich nichts zu wünschen übrigläßt: „Sie [die Staatschefs, d. Red.] werden die Auslöschung des tschetschenischen Volkes feiern. Niemand ist gehalten, die andauernden Massaker der russischen Armee zu ignorieren. Niemand ist befugt, die Erinnerung an die Kriegsteilnehmer von Warschau, Stalingrad und den Stränden der Normandie zu beleidigen. Wir fordern die Staatschefs auf, sich nicht nach Moskau zu begeben.“

Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehören unter anderem die Schriftsteller André Glucksmann und Pascal Bruckner, der Filmemacher Claude Lanzmann, der Philosoph Alain Finkielkraut und der Europaabgeordnete Bernard Kouchner. Auch die Schriftsteller Günter Grass und Lew Kopelew, die Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit, Edith Müller und Otto von Habsburg, der Journalist Walter Oswalt und Rupert Neudeck vom Komitee Cap Anamur haben unterschrieben. Für Neudeck steht dabei die Gegenwart im Vordergrund. So müsse man sich fragen: „Wer ist heute nicht befreit, wo gibt es Völkermord, wo Vertreibung, wo werden Menschenrechtsverletzungen verschwiegen wie in Tibet, wo geschehen Staatsverbrechen, geschieht nicht heute in Grosny, was früher in Dresden passierte?“ Kopelew sagte der taz, solche Aufrufe wendeten sich unmittelbar an die Politiker: „Sie können sie dazu zwingen, für humanitäre Hilfe zu sorgen oder mindestans dafür zu sorgen, daß Soldateska und Bürokratie diese Hilfe nicht unterbinden.“

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Freimut Duve, der den Appell nicht unterzeichnet hat, erklärte, er könne den Aufruf inhaltlich nachvollziehen, sei aber als deutscher Politiker in einer anderen Lage als seine französischen Kollegen. Für Deutschland sei der 8. Mai nicht der Tag, Rußland wegen Tschetschenien anzugreifen. Der Bundeskanzler sei jedoch aufgefordert worden, in Moskau Vertreter von Menschenrechtsgruppen und Mütter der Soldaten zu treffen. „Ich finde es sinnvoll, die Vergangenheit immer vor den Spiegel der Gegenwart zu stellen“, fügte Duve hinzu. Kommentar Seite 10