Der Sündenfall

■ Im neuen Quotenkampf mit den Privaten ließ sich die ARD 1986 auf den Zotenkampf ein: Ein Wiedersehen mit "Donnerlippchen" (Do., 21.45 Uhr, ARD)

Es war noch kein Jahr her, daß Blacky Fuchsberger von der ARD abserviert worden war. Etliche sprachliche Entgleisungen hatten ihn zu einer Persona non grata gemacht: „Finden Sie sich gut getroffen?“ hatte er die korpulente „Auf los geht's los“-Kandidatin Birgit gefragt und ihr ein Polaroid vor die Nase gehalten. „Nein? Dann müssen Sie mal in den Spiegel schauen!“ Auch Thomas Gottschalk, 1986 noch ein ZDF-Newcomer, wehte der kalte Wind der Kritik ins Gesicht. Allzu locker begegnete er seinen „Na sowas“-Gästen. Der 61jährigen Artistin Maria hatte er während ihrer Vorstellung schnodderig zugerufen: „Passen Sie auf! In Ihrem Alter erkältet man sich schnell die Eierstöcke!“

Ungefähr zur gleichen Zeit machte Jürgen von der Lippe ungefähr mit den gleichen schlechten Scherzen rasant Karriere: Vom WDR im Dritten mit „So isses“ ausprobiert, wurde er im Frühjahr 1986 ins Erste geholt. Seine Zotenshow „Donnerlippchen – Spiele ohne Gewähr“ wurde ein fulminanter Quoten- und partieller Kritikererfolg. Denn die zwei Jahre zuvor an den Start gegangenen Privaten formierten sich gerade mit „Soft-Pornos“ und „Action-Filmen“ zu einem Angriff auf den guten Geschmack. Da kam der ARD dieser Zotenreißer („Mein Name ist Lang!“ – „Macht nichts, ich habe Zeit.“) gerade recht: Die „Gürtellinie“, so Lippes Credo, sei „eine fließende Grenze“, die von Generation zu Generation neu definiert werden müsse.

Wo der Gürtel des Zuschauergeschmacks 1986 seinen Platz fand, hat uns die ARD vorgestern abend mit der Wiederholung der ersten Folge von „Donnerlippchen“ noch einmal vorgeführt. Aber was seinerzeit von der Kritik als „tulminöses Inferno der guten Laune“ gegeißelt oder als „Rückkehr des Humors ins deutsche Fernsehen“ gefeiert worden war, versendet sich heute eher im Unterhaltungseinerlei des Dualen Systems: Da müssen zwei Kandidatinnen die Anzahl von Groschen in einem Glasbehälter schätzen, und die Gewinnerin wird zum Dank von dem Catcher Dr. Klinger-Emden geschultert und aus dem Studio getragen. Der Innendienstmitarbeiter der Bußgeldstelle Neuss imitiert im Wettstreit mit einem Finanzamtsbeamten aus Bad Bentheim-West Tina Turner. Wer im Publikumsklatschtest verliert, muß mit ansehen, wie der eigene Amtsleiter in ein riesiges Wasserbassin geschubst wird. „Das war aber gemein!“ kommentiert der unter seiner lächerlichen Tina-Turner-Perücke schwitzende Verlierer Hans-Hermann, „das war echt gemein.“ Damit hat der Bußstellen-Beamte den Grundgedanken der neuen Show auf den Punkt gebracht. Denn die aus dem amerikanischen importierte Idee funktionierte nach dem Prinzip „In der Unterhaltung kann man auf Einzelschicksale keine Rücksicht nehmen“. Zur professionellen Umsetzung dieses Verdikts – und das war das Neue an „Donnerlippchen“ – hatte sich von der Lippe eigens den US-Game- Show-Macher Michael Hill engagiert, der die „Quicky-Show“ mit Spielideen versorgte. In einer späteren Sendung würde zum Beispiel eine Kandidatin den Geldwert eines Autowracks schätzen und sich schließlich anhören müssen, daß es ihr eigenes war. Auch die vom BR zur gleichen Zeit konzipierte Mike-Krüger-Show „Vier gegen Willi“ hatte sich in den Staaten umgesehen und war dabei auf einen ähnlichen Gag gestoßen: Dort hatte der Kandidat zusehen müssen, wie sein Wagen in Schrott verwandelt wurde.

Das Spiel mit der Schadenfreude, die darin besteht, daß der Kandidat nie weiß, ob ihn ein schöner Gewinn oder eine entsetzliche Niete erwartet, brachte von der Lippe seinerzeit Quoten von bis zu 40 Prozent ein. Das war für die öffentlich-rechtlichen Programmanbieter doppelt bitter: zeigte es doch nicht nur, wie wenig Respekt dem Zuschauer auf der Bühne von dem Zuschauer vor dem Schirm noch entgegengebracht wurde, sondern auch, daß die Privaten mit ihrem Hang zur Zotenunterhaltung recht hatten. Noch heute sind solche Spiellaunen in „Geh aufs Ganze“ (Sat.1) oder in der „100.000-Mark- Show“ (RTL) erfolgreich.

Mit „Donnerlippchen“ und „Vier gegen Willi“ waren die „Anything goes“-Prinzipien der US-Unterhaltung plötzlich als ARD-tauglich geadelt worden. Die neue Herangehensweise, die US-Spielideen nicht mehr abzumildern, sondern 1:1 zu übernehmen, so scheint es in der Rückschau, markiert den Sündenfall der öffentlich-rechtlichen Qualitätsunterhaltung.

Denn von der Lippe machte Quoten – und damit nach der neuen ARD-Direktive eine gute Show. Etwas später hätte Fuchsberger womöglich gar nicht mehr gehen müssen. Klaudia Brunst