Im Intensivwartezimmer

Der Ausnahmezustand gefiel dem „glücklichen Neurotiker“ – Jean-Paul Sartres Tagebücher aus dem „komischen Krieg“ von 1939/1940 sind jetzt in Frankreich veröffentlicht worden: eine Blaupause seines späteren Schaffens  ■ Von Walter van Rossum

Also immer noch: nach spätestens fünf Seiten spürt man ihn, den Fahrtwind seines Denkens und Schreibens. Jean-Paul Sartre – der 15. April war sein fünfzehnter Todestag. Daß ihn kaum jemand zu vermissen scheint, zeigt nur, was wir seit dem munter verschüttet haben: eine Philosophie außerhalb von Akademien und Tagungszentren in bekömmlichen Mittelgebirgslagen, „die Sorge ums Dasein“ nicht als Seminarthema, sondern als Leidenschaft des Denkens und Handelns, der Verzicht auf das Überblicksdenken (der Domäne von Engeln und Professoren), die aufregende Ahnung, daß wir unser Denken und uns selbst erfinden müssen – nicht in erhabener Einsamkeit, sondern mittels und dank der brummenden Redeströme unserer Tage. Was nebenbei das vornehmste Prinzip der sogenannten „engagierten Literatur“ bedeutet: Kommunikation, die mit Politik im Vordersinn erstmal nichts zu tun hat – allen Handbüchern zum Trotz. Statt dessen frönen wir einem lausigen akademischen Patchworkgetue einerseits und einem altbekannten, jetzt auf Hightech getrimmten Systemdenken andererseits. Und nicht zu vergessen: Lustlose und verquälte Intellektuelle projizieren ihre weltverbesserischen Jugendsünden gerne auf den Oberbolschewik Sartre, um sich dann der neuen Begeisterung für den freien Markt und Out-of- area-Einsätze zu überlassen.

Man kann ziemlich genau datieren, wann Sartres Schreibmaschine ins Rasen geraten ist. Am 2. September 1939 verabschiedet er sich am Gare de l'Est in Paris von seinen Freunden und von seinem alten Leben. Er wurde an die Front ins Elsaß befohlen. Frankreich hatte nach Hitlers Überfall auf Polen Deutschland den Krieg erklärt. Seitdem schweigen die Waffen. Der Krieg wird nicht heiß. Die Franzosen bewachen ihre Grenzen. Das ist den Deutschen nur recht. So können sie die Front im Osten „klären“ und dann im Mai/ Juni 1940 die Franzosen binnen sechs Wochen überrennen. Die Monate zwischen der Kriegserklärung und der Kapitulation nennen die Franzosen von Anfang an „drôle de guerre“, den komischen Krieg. In diesem seltsamen Intensivwartezimmer richtet sich Jean- Paul Sartre häuslich ein. Er, der sein Leben lang die Gesellschaft von Frauen vorzieht, findet sich unter rauhen und schweißfüßigen Männern wieder.

Er, bislang Spezialist für heroischen Individualismus, dient als numerierter Fußsoldat in einer autoritären und enthumanisierenden Vernichtungsanordnung. Und wie viele seiner Landsleute versteht er diesen Krieg nicht. Man wartet und stellt sich Fragen. Den meisten mangelt es an Liebe für die polnische Diktatur und für die französische Gesellschaft der dreißiger Jahre. Der Haß auf Hitler bleibt abstrakt. Trotzdem müssen die immobilen Mobilisierten stündlich damit rechnen, getötet zu werden oder töten zu müssen. Einstweilen herrscht gespannte Ruhe. Jean- Paul Sartre läßt Wetterballons in den Himmel steigen. Ansonsten schreibt er so viel wie nie zuvor.

Er beobachtet sein Leben: Der „drôle de guerre“ hat ihn aus seinem alten Leben gerissen. In Maßen erstaunt, merkt er, daß ihm kaum etwas fehlt, daß ihm nichts weh tut. Vor ihm öffnet sich eine unbezeichnete Zukunft. Er sieht sich auf sie zugehen: passives Subjekt einer Metamorphose. Eine leerlaufende kriegerische Apparatur zwingt ihn in eine strenge Ordnung, aber sie verbirgt ihn auch. In dieser Verborgenheit experimentiert er herum – mit sich, denn er sieht sich jetzt als reine Möglichkeit. Ein Soldat, den man irgendwohin geschickt hat, um irgendeinen Krieg gegen irgendeinen Feind zu führen oder abzuwenden, wie auch immer. Sartre willigt auch deshalb so erstaunlich schnell in die abenteuerlichen Lebensumstände ein, weil sie ihm erlauben, sein eigener Fremder zu werden. Mit dem spielt er auf dem Papier.

Selbstverständlich kariert

Was schreibt er denn eigentlich den ganzen Tag? Er beendet seinen kurz zuvor begonnenen Roman „Zeit der Reife“, den ersten Band der Trilogie „Die Wege der Freiheit“. Er wird erst 1945 erscheinen können. Er schreibt zahllose Briefe an seine Mutter, seine Freunde, seine Freundinnen (er hat sich in doppeldeutigen Liebesverhältnissen verzettelt) und natürlich an Simone de Beauvoir, seine Stellvertreterin und Platzhalterin in der „Zivilisation“ und stets auf dem laufenden gehaltene Zeugin seiner Arbeit an der Metamorphose. Am 14. September heißt es in einem Brief an seine Vertraute: „Ich habe darüber nachgedacht, was das ist, die Welt des Krieges, und den Plan gefaßt, ein Tagebuch zu schreiben. Schicken Sie mir bitte in dem Paket ein festes schwarzes Heft – dick, aber nicht zu hoch und nicht zu breit, selbstverständlich kariert.“ Aber schon zwei Tage später hat er sich selbst ein solches Heft zugelegt, und er beginnt sogleich mit den täglichen Eintragungen in seine „Carnets de la drôle de guerre“ – seine vielleicht bewegendsten Texte. Mindestens 15 solcher Hefte hat Sartre gefüllt. 1983 wurden fünf dieser Carnets veröffentlicht. (Die deutsche Übersetzung erschien 1984 bei Rowohlt.) Immerhin nahmen sie bereits 450 Druckseiten ein. Insgesamt kann man den Umfang der erhaltenen und verschollenen Tagebücher auf mindestens 1.500 Druckseiten hochrechnen. Zusammen mit wenigstens 1.100 Seiten Briefen und etwa 250 Seiten Romanmanuskript kommt man für die neun Monate des komischen Krieges fast 3.000 Seiten. Sartre steht unter Hochdruck. Und er gefällt ihm, der Ausnahmezustand: „Ich verabscheute Tagebücher, und ich dachte, daß der Mensch nicht geschaffen ist, sich selbst zu betrachten. Nach dem Kriege werde ich dieses Heft nicht weiterführen, oder wenn ich es weiterführe, werde ich darin nicht mehr von mir sprechen. Ich will nicht bis ans Ende meiner Tage von mir selbst heimgesucht werden. Mir scheint nur, daß man unter besonderen Umständen und wenn man im Begriff ist, sein Leben zu ändern wie die Schlange, die sich häutet, diese tote Haut betrachten kann, dieses spröde Bild der Schlange, das man hinter sich läßt, um Bilanz zu ziehen.“ (19.12.)

Das sind also die Tagebücher: Kladden der Bilanz, Logbücher der Häutung, eine Existenzgründungsakte, die von Anfang an mit der Perspektive einer grundsätzlichen und befreienden Reinigung ausgestattet ist. Im Juni 1991 erwirbt die „Bibliothèque Nationale“ aus dem Nachlaß eines bibliophilen Professors das verloren geglaubte erste Heft dieser Tagebücher. Es reicht vom 14. September bis zum 24. Oktober 1939. Das zweite fehlt immer noch, und das dritte – erhaltene – setzt mit dem 12. November ein. Arlette Elkaim- Sartre, seine Adoptivtochter und Nachlaßverwalterin, hat diesen Fund genutzt, um eine erweiterte Neuausgabe der „Carnets“ herauszugeben. Sie hat den bisher bekannten Text mit äußerst nützlichen Anmerkungen versehen, die Wochen der fehlenden Carnets mit einigen Hinweisen überbrückt und auch ein Register angelegt. Hoffen wir, daß die rühmliche deutsche Sartre-Edition, die seit Traugott Königs Tod von Vincent von Wroblewsky betreut wird, bald nachzieht.

Sich inmitten des konkreten Allgemeinen als vom Universellen erfaßten Einzelnen zu erfassen, diese Turnübung trainiert das erste Carnet vom September/Oktober 1939. Das einzige, was Sartre mit Deutlichkeit bereits am 4. September vor Augen stand, war das Ende einer Epoche, das Ende eines fauligen Kompromisses, den er, und mit ihm die französische Gesellschaft, gelebt hat. Das Ende des Spiels der folgenlosen Ideen. Jetzt geht es darum, sich an die Spitze dieses auferlegten Endes zu setzen. Den Entwurf zu wagen, das heißt erst einmal danach zu fragen, wer man ist, was der Krieg ist, was der Krieg aus einem macht, was man aus dem Krieg machen kann. Rechenschaft über das alte Leben, Rechenschaft über seine verwirrenden Liebesverhältnisse, Beobachtung der Gegenwart mit ihren vom Vernichtungsauftrag geordneten Zusammenhängen. Er sucht nicht, um sich in der Sünde zu wälzen, nicht, um sich am dunklen Drama des Selbst zu laben, sondern um in den Splittern der berstenden Zeit- und Lebensläufe einen Anhaltspunkt zu finden. Ein Blindflug – alles befragen, um seine Spur zu finden. Der Phänomenologe Sartre zeigt, was er kann. Ob es um die Sprache seiner Kameraden geht, um die Entdeckung des Krieges im friedlichen Gegenstand, um historische Vergleiche mit dem Ersten Weltkrieg, ob es um die Selbstbeschreibung seiner eigenen Untreue zu sich geht („Jeder Moment meines Lebens fällt von mir ab wie ein totes Blatt“), oder ob es darum geht, dem Wahn, der die eigene Gewißheit schützt, auf die Spur zu kommen – Sartre experimentiert erstmal mit tragenden Fragen. Es bedarf schon einiger Seiten, bevor er die Anfangssteifigkeit des ungeüb

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ten Tagebuchschreibers überwindet. Die allerersten Eintragungen klingen manchmal noch recht kontrolliert, setzen zu kleinen Abhandlungen an. Am 23. Oktober resümiert er die Versuche des ersten Heftes: „Dieses Heft ist nützlich, weil es mir, einfach gesagt, dabei hilft spontan zu denken. Ich war zu systematisch. [...] Es geht mir nicht um eine Kriegstheorie, sondern um Entdeckungen. Ehrlich gesagt, bis jetzt habe ich noch gar nichts entdeckt.“ Am 1. Dezember scheint sich bereits ein Muster abzuzeichnen: „Ich versuche schreibend eine solide, kritallisierte Basis zu errichten, von der ich ausgehen kann. Kurz, es gibt bei den Primitiven Zeremonien, die dem Lebenden helfen zu sterben, und der Seele helfen, sich vom Körper zu lösen. Meine ,bekennerischen‘ Notizen haben das gleiche Ziel: meinem gegenwärtigen Sein zu helfen, in die Vergangenheit zu fließen, es notfalls ein bißchen hineinzustoßen. Es ist ein Teil Illusion dabei [...]. Zumindest aber deutet es die Linie einer möglichen Veränderung an.“ Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Diese Linie wird er die nächsten 40 Jahre entlanglaufen. Es ist unglaublich, wie sich in diesen Tagebüchern bald der „ganze“ Sartre abzeichnet. Natürlich finden wir hier die erste Skizzen zu seinem ersten philosophischen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“, das 1943 erscheinen wird. Aber es deutet sich auch schon eine komplexe Auseinandersetzung mit der „Geschichtlichkeit“ an, der Sartre theoretisch erst 1960 in der „Kritik der dialektischen Vernunft“ zu Leibe rücken wird. Wir finden hier Vorarbeiten – erstaunlicherweise am Beispiel des deutschen Kaisers Wilhelm II – zu den späteren Biographien über Baudelaire, Mallarmé, Jean Genet, Gustave Flaubert. Nicht zuletzt beginnt Sartre hier, sich als den glücklichen Neurotiker zu beschreiben, den er in seiner späteren Autobiographie „Die Wörter“ (1963) auf Nobelpreisformat bringt. Ich denke, daß uns dieses durchpulste Werk trotz oder gerade wegen Sartres alles verdeckender Berühmtheit erst noch bevorsteht. Jede Menge Stoff. Trotzdem bleiben die neun fehlenden Hefte eine schmerzliche Lücke.

Jean-Paul Sartre: „Carnets de la drôle de guerre. Septembre 1939 – Mars 1940“. Nouvelle Edition, augmentée d'un carnet inédit. Texte établi et annoté par Arlette Elkaim-Sartre. Gallimard, Paris 1995. 675 Seiten, 180 Francs