Vakuum der Städte

■ Ein Gespräch mit Eugene Grigsby

Professor Eugene Grigsby ist Leiter des „Center for African- American Studies“ an der University of California in Los Angeles (UCLA) und Koordinator des „Los Angeles Mega-Cities Project“. Bis zum Jahr 2000 wird die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten leben. 23 dieser Städte, so die Prognose der UNO, werden „Mega-Cities“ mit mehr als zehn Millionen Einwohnern sein – oder sind es bereits: Los Angeles, Mexico City, New York, Buenos Aires, São Paulo, Rio de Janeiro, London, Lagos, Kairo, Moskau, Karatchi, Bombay, Delhi, Kalkutta, Dacca, Bangkok, Djakarta, Tianjin, Peking, Shanghai, Manila, Seoul und Tokio. Das Projekt in Los Angeles erforscht Probleme dieser „Mega-Cities“ – und sucht nach Lösungsansätzen. Einige dieser Städte haben sich im Rahmen dieses Projekts zu einem „Mega Cities“-Netzwerk zusammengeschlossen.

taz: Was haben Mega-Städte von Mexiko bis Nigeria gemeinsam – außer ihren gigantischen Dimensionen?

Grigsby: Viel. Diese Städte haben mehr miteinander gemein als mit dem jeweiligen Land, in dem sie sich befinden. Zum Beispiel Bevölkerungsdichte und Immigration. Das ist auch die Ausgangsposition unseres Projekts. Unsere zweite Grundannahme lautet: Die Strukturen einer staatlichen Verwaltung und Regierung waren nie dazu gedacht gewesen, mit solchen Mega-Cities fertig zu werden. Los Angeles ist ein gutes Beispiel. Die Zahl der Einwohner der Stadt Los Angeles liegt bei nur drei Millionen. Doch das County Los Angeles besteht aus 89 Städten mit insgesamt sieben Millionen Menschen. Und im Einzugsgebiet der Stadt leben schließlich 15 Millionen. Das ist durchaus typisch. Viele Mega-Cities bestehen aus vielen kleineren Städten, die zusammengeschmolzen sind, aber keine angemessene Verwaltungsstruktur haben. Der öffentliche Sektor wird mit den Problemen also nicht fertig. Unsere dritte Grundannahme: Der Privatsektor wird dieses Vakuum nicht füllen.

Wer tritt in dieses Vakuum?

Dezentrale Organisationen, die in ihren Communities verwurzelt sind – Kirchen, Obdachlosenvereine, Bürgerinitiativen, Nachbarschaftsgruppen oder andere gemeinnützige Vereinigungen, die mit den tagtäglichen Folgen dieser Probleme umzugehen versuchen. Ein Ziel unseres Projekts ist es deshalb, einen Austausch zwischen diesen Gruppen in den verschiedenen Städten herzustellen.

Ihr Szenario von der Unfähigkeit des staatlichen und dem Rückzug des privaten Sektors klingt ziemlich apokalyptisch ...

Ja und nein. So drastisch wird sich das nicht abspielen, und dezentrale Community-Organisationen werden auch nie die Rolle des öffentlichen Sektors übernehmen können. Eine Aufgabe unseres Projekts besteht gerade darin, Vertreter aller drei Sektoren an einen Tisch zu bringen, um die wachsende Rolle der Community- Gruppen zu diskutieren.

Wie wird die soziale Stratifikation der Stadt-Giganten aussehen?

Alle Mega-Cities sind geprägt durch den Gegensatz zwischen einer „Erste-Welt-Bevölkerung“, und einer „Dritte-Welt-Bevölkerung“. Die Omnipräsenz von Computer-Kommunikation und elektronischen Finanztransfers ermöglichen in jeder Mega-City die Präsenz einer reichen Schicht – egal, ob diese Stadt in den USA oder Nigeria liegt. Immigration ist ein Faktor, der maßgeblich zur Bildung der Dritte-Welt-Bevölkerung beiträgt. Beide Phänomene sind ein Resultat der Globalisierung der Ökonomie. Die Kluft zwischen Reichen und Armen wächst.

Was passiert mit der Mittelschicht?

Die ist in Los Angeles in den letzten Jahren ganz massiv geschrumpft – vor allem als Folge der Rezession und der daraus resultierenden Krise großer Konzerne. Der Arbeitsplatzverlust wird mittlerweile durch neue, kleine Unternehmen aufgefangen. Doch die brauchen kein mittleres Management mehr. Sich in die Middl-class hochzuarbeiten wird also immer schwieriger. Statt dessen werden viel mehr Menschen am Rande der Armut leben. In Kombination mit dem Faktor Immigration beobachten wir in diesen Städten eine wachsendes Heer marginalisierter Arbeitskräfte. Die Städte tragen diesem Umstand bereits Rechnung, indem sie einen informellen Wirtschaftssektor zu tolerieren beginnen – Straßenhändler, illegale Heimarbeiter. Das tun sie aus gutem Grund. Zum einen profitieren andere ökonomisch davon, zum anderen ist es ein wichtiger Bestandteil sozialer Kontrolle, diesen informellen Arbeitsmarkt zu dulden. Damit gewährt man den Angehörigen dieser marginalisierten Schicht die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Wo wirken Community-Organisationen in diesem Szenario am effektivsten?

Unsere Erfolgsbeispiele in Los Angeles sind vor allem jene, die sich an die rapide veränderte Demographie angepaßt haben – und heute die Bedürfnisse einer multikulturellen Nachbarschaft befriedigen, was unter der staatlichen Prämisse der Kosteneffizienz verdammt schwer ist. Ein Beispiel: Eine unserer Schulen, die Hollywood Highschool, integriert mittlerweile Schüler, die 80 veschiedene Sprachen sprechen. Glauben Sie mir: Das ist eine große Herausforderung an Lehrer. Die umliegenden Community-Organisationen reagieren darauf viel schneller als die Schulverwaltungen, und bringen Leute in die Schulen, die diese Sprachen sprechen.

Community-Organisationen übernehmen in amerikanischen Städten soziale Leistungen, die in anderen Ländern der Staat erbringt. Wie sieht die finanzielle Zukunft dieser Organisationen aus?

Düster, zumal die sogenannten Reformen der Repulikaner im US- Kongreß auch vorsehen, daß Geldspenden nicht mehr von der Steuer absetzbar sind. Privatunternehmen haben den Geldhahn ohnehin schon merklich zugedreht; größere Stiftungen mußten Kürzungen vornehmen.

Community-Organisationen werden also ihre Finanzierungsquellen verlieren ...

Es sei denn, sie passen sich an. Ich bin ein ganz großer Verfechter des Wandels von gemeinnützigen Community-Organisationen hin zu profitorientierten Community- Organisationen. Wenn man in diesem kapitalistischen System mithalten will, dann muß man die kapitalistischen Regeln lernen. Das heißt: Die erbrachten Dienstleistungen dieser Gruppen werden gebührenpflichtig, wobei natürlich auf die finanzielle und soziale Lage derer zu berücksichtigen ist, die diese Leistungen in Anspruch nehmen. Wichtiger noch: In den USA haben Community-Organisationen Aufgaben übernommen, die eigentlich in der Verantwortung des Staates liegen. Also soll der Staat sie dafür auch bezahlen. Interview: Andrea Böhm