■ Mit dem Auslaufen der Waffenstillstandsvereinbarung für Bosnien scheint eine neue Runde des Krieges unvermeidbar. Getragen von einem erfolgsbedingten Selbstbewußtsein...
: Ende des "Krieges auf Sparflamme"

Mit dem Auslaufen der Waffenstillstandsvereinbarung für Bosnien scheint eine neue Runde des Krieges unvermeidbar. Getragen von einem erfolgsbedingten Selbstbewußtsein, sucht die muslimisch dominierte bosnische Armee die Offensive.

Ende des „Krieges auf Sparflamme“

Als in der Nacht zum 1. Mai auf den Bergen, die das Tal der Bosna umschließen, Feuer loderten, erschien dies fast wie ein Symbol. Zwar gelten diese Feuer, um die sich des Nachts die Bewohner eines Dorfes oder einer Nachbarschaft versammeln, dem Tag der Arbeit, dem 1. Mai. Doch mit dem Ende des Waffenstillstands in der gleichen Nacht riefen die Flammen auch andere Assoziationen wach: In dem nun schon seit drei Jahren andauernden Krieg in Bosnien- Herzegowina scheint sich eine neue Runde anzubahnen. Mit ihrer harten Haltung könnten beide Seiten den „Krieg auf Sparflamme“ der letzten Monate wieder zum Fanal werden lassen.

Der Bosnien-Beauftragte der UNO, Yasushi Akashi, hat am Wochenende mit seiner Blitzreise nach Sarajevo noch einmal versucht, sowohl den Serbenführer Karadžić wie die bosnische Regierung zum Einlenken zu bewegen. Sein versteinertes Gesicht nach den Gesprächen mit beiden Parteien jedoch ließ schon am Vortag der Entscheidung ahnen, daß die politischen Mittel der UNO sich offenkundig erschöpft haben; der unter ihrer Vermittlung vor vier Monaten geschlossene Waffenstillstand ist ohnehin längst hinfällig geworden.

Die bosnische Seite will ein „Zeichen für die internationale Gemeinschaft setzen“, wie es Ministerpräsident Haris Silajdzic ausdrückte. Indem der Waffenstillstand in Sarajevo trotz des damit verbundenen Risikos vor allem für die Hauptstadt abgelehnt wird, will die bosnische Führung die internationale Gemeinschaft zwingen, Karadžić endlich mit allem Nachdruck zur Unterzeichnung des Planes der Bosnien-Kontaktgruppe zu drängen. „Eine Verlängerung des Waffenstillstands würde Karadžić nur die eroberten Gebiete absichern helfen“, sagte Silajdzic.

Kein Zweifel, die Politiker in Sarajevo sind selbstbewußter geworden. Mit dem Rückenwind einer seit dem Washingtoner Abkommen spürbaren US-amerikanischen Unterstützung versuchen die Bosniaken nun die Initiative zu ergreifen. Hinzu kommt, daß die militärische Kooperation mit Kroatien zu greifen scheint: Der kroatische Angriff auf serbische Positionen bei der Autobahn nahe Okucani in Slawonien, der gestern morgen begann, betätigt das. Auch ist die mit ihren 200.000 Soldaten muslimisch dominierte bosnische Armee zu einem Faktor geworden. Aus einer Bürgerwehr entstanden, die im April 1992 verzweifelt versucht hatte, eine übermächtige jugoslawische Volksarmee zu stoppen, hat sie sich inzwischen zu einer ernst zu nehmenden Armee entwickelt.

Bereits 1993, als sie nach dem Angriff der kroatischen HVO- Verbände in Zentralbosnien eigentlich abgeschrieben war, gelang es der bosnischen Armee, den völlig eingeschlossenen „Kessel Restbosnien“ zu halten, die kroatische HVO militärisch zu schlagen und sich auch gegenüber den serbischen Verbänden zu halten. Selbstbewußt verkünden die bosnischen Militärs denn auch, daß Bosnien ohne ihre Armee nicht mehr existieren würde.

Seit dem Washingtoner Abkommen und der Bildung der bosnisch-kroatischen Föderation hat sich diese Armee 1994 „konsolidiert“: Trotz des Embargos kamen vor allem leichte Waffen via Kroatien ins Land, die Ausrüstung konnte verbessert werden. Im Frühjahr 1995 gelang es dem 2. Armeekorps, in dem ostbosnischen Majevica-Gebirgszug die serbisch- bosnischen Streitkräfte zurückzudrängen. Dieser Gebirgszug ist für beide Seiten wichtig: Die Serben können von hier die Stadt Tuzla beschießen, die Bosnier können von den Bergen aus den für die serbischen Gebiete Westbosniens und der Krajina lebenswichtigen Korridor bei Brcko, den Posavina- Korridor, gefährden. Gelänge es der bosnischen Armee, diesen Korridor zu durchtrennen und eine direkte Verbindung zu Kroatien zu gewinnen, wären die serbisch besetzten Gebiete um Banja Luka und Knin eingeschlossen.

Auch in der Region um die zentralbosnische Stadt Travnik gab es einen Erfolg: Vor drei Wochen eroberten bosnische Verbände den Gebirgszug Vlasic. Wer den Vlasic kontrolliert, so die Militärs, kontrolliere Zentralbosnien. Jetzt ist es nicht einmal mehr ausgeschlossen, daß die Bosniaken die im Oktober 1992 aufgegebene Stadt Jaice zurückerobern. Denn auch die kroatischen Truppen haben in dieser Region Erfolge zu verbuchen. Von der westherzegowinischen Stadt Livno aus gelang es ihnen, mehr als 30 km nach Nordwesten vorzustoßen und sich quasi im Rücken der serbischen Krajina- Hochburg Knin festzusetzen.

Im Gegenzug versuchten Karadžićs Serben im April mit Erfolg, den freien Verkehr nach Sarajevo einzuschränken. Seit drei Wochen sind die Versorgungsflüge nach Sarajevo wegen der serbischen Drohungen, die Flugzeuge zu beschießen, eingestellt. Artilleriegranaten auf die Städte, der Beschuß der Zufahrtswege Sarajevos und Pressionen gegen die Zivilbevölkerung der Enklaven Bihać, Srebrenica, Zepa und Goražde sind die „Revanche“ der Serben für ihre Verluste an den anderen Fronten.

Daß die bosnische Armee für eine weitere begrenzte Offensive um Sarajevo gewappnet ist, zeigte die Rede des Oberkommandierenden Razim Delic am Morgen des 1. Mai vor den Rekruten einer Artillerieeinheit. Mit markigen Worten deutete der Kommandant baldige Aktionen an für den Fall, daß die serbischen Angriffe nicht aufhörten. Angesichts der Drohung Frankreichs, seine Blauhelme aus Sarajevo abzuziehen, sollte der Waffenstillstand nicht verlängert werden, könnten die Dinge in und um Sarajevo bald schon in Bewegung geraten.

Bei der Weigerung, den im Frühjahr ohnehin von allen Seiten gebrochenen Waffenstillstand in Bosnien zu verlängern, spielen für die bosnische Führung also politische und militärische Aspekte eine Rolle, die zusammengenommen die Position der serbischen Führung in Pale erschüttern sollen. Außerdem will sie unbedingt die UNO zu einer klarer definierten Politik veranlassen. Es ist in Sarajevo sehr wohl registriert worden, daß der kroatische Präsident Franjo Tudjman mit seiner harten Haltung gegenüber den Vereinten Nationen im März dieses Jahres wenigstens einen Teilerfolg erzielt hat.

Mit politischen Mitteln allein läßt sich Bosnien-Herzegowina als Einheitsstaat nicht wiederherstellen, so jedenfalls beurteilt die große Mehrheit der Bosniaken die jetzige Lage. Der Bevölkerung ist durchaus bewußt, daß eine neue Runde des Krieges große Leiden mit sich bringt. Doch die gefaßte Ruhe weist auch darauf hin, daß die Menschen den Kurs ihrer Führung mittragen. Die Forderung, Sarajevo und die Enklaven noch vor einem vierten Kriegswinter zu befreien, wird mit gedämpftem Beifall aufgenommen. Erich Rathfelder, Visoko