Tempodropoly – Verlosung alter Hüte

15 Jahre Tempodrom und immer noch nicht Stein Reich / Bei der Alles-wird-gut-Geburtstagsparty am Montag gab's für 100 Mark Tempodrom-Bausteine zu kaufen: Ein Ausweg aus der Finanzmisere?  ■ Von Andreas Becker

„Das Eigentum ist abgeschafft!“ ruft Irene Moessinger ins dreiviertel volle Tempodrom. Hinter ihr auf der Bühne prangt ein Transparent: „Stein Reich“. Und weil weder der Marxismus in Form eines Zirkuszelts überlebt hat, noch Irene und ihre Kommune es in 15 Jahren Tempodrom-Existenz geschafft haben, Kapital zu akkumulieren, muß nun die Basis ran: Jeder kauft einen „Tempodrom- Baustein“ für 100 Mark, und „alles wird gut“.

Das Geld wird schon irgendwie zusammenkommen, scheint Frau Irene zu meinen. Also startete man am 1. Mai 95, genau 15 Jahre nachdem Krankenschwester Moessinger mittels einer formidablen Erbschaft den Potsdamer Platz von einer Wüste in eine Kulturoase verwandelte, das „Tempodropoly“. Es brauchte allerdings einige Stunden, bis wenigstens 400 Bausteine aus den Bauchläden der adretten „Baustein-Girls“ verschwunden waren, die den ganzen Abend durchs Zelt tingelten. Eins der Girls ist die Tochter von Irene und ihrem ewigen Kollegen Norbert Waehl. Sie ist etwa so alt wie das Tempodrom.

Kultursenator Roloff-Momin hatte ein Tablett mit 23 Bausteinen mitgebracht, für jeden Bezirk einen. Zum Dank wurde er später von Chefclown Leo Bassi im Gesicht malträtiert. Für den Ökobau, der möglichst am 1. Mai 1998 am Anhalter Bahnhof eröffnet werden soll, sind rund 15 Millionen Mark veranschlagt. Man hofft auf Großzügigkeit des Senats und EU- Gelder. Und eben auf die Hunderter aus dem Publikum. Ob dann das Geld reicht, darf man leider bezweifeln. Auch das Alternativprojekt Tempodrom kommt, wie alle anderen Firmen dieser Art, nicht um die Geldmisere herum. Die Baustein-Kampagne versucht eine Rückbindung an die guten alten Zeiten, als alle noch meinten, an einem Strang zu ziehen. Diese Zeiten sind lange vorbei, heute beglückwünscht Daimler-Benz die Tempodromisten zur Ansiedlung in unmittelbarer Nachbarschaft des Potsdamer Platzes. Ein Betriebsfest bei den Schmuddelkindern von damals – nichts schöner als das. Wahrscheinlich ließe sich sogar der Auto- und Rüstungskonzern zum Kauf eines größeren Bausteinpakets überreden, nur, was sagt dann die gute alte Zuschauerbasis?

Die reagierte jedenfalls schon recht sauer und mit Pfiffen auf den Geburtstagsspagat, der zwischenzeitlich zur Fernseh-Live-Show degenerierte. Ulli Zelle fuchtelte wieder einmal mit dem B1-Mikro vor der leibhaftigen Lotti Huber herum, diese verloste ihren Megahut unter der Bedingung, daß mehr Frauen als Männer Bausteine kaufen würden, und irgendwann kippte der Kameramann einfach vom Stuhl. Das muß lustig anzuschauen gewesen sein, in einer Britzer Wohnstube. Den Unmut der Gäste erregten vor allem die Video-Einsprengsel der Fernsehleute, auf denen uns vorgeführt wurde, wie wir vor einem Jahr über Leo Bassi gelacht haben. Viele kamen sich vor wie bei einer Wüstenrot-Party: Auf diese Steine kannst du bauen. Unterschreiben Sie Ihren Baussparvertrag am besten noch gleich heute abend.

Der Versuch, möglichst viele potentielle Geldgeber via TV anzubaggern und das eigentliche Publikum nicht zu verschaukeln, ging daneben. Hübsch war die Rache der Glücksgöttin an der ewig saftenden Zitrone Lotti Huber, die es sich nicht verkneifen konnte, ihr gleichnamiges Buch in die Kamera zu halten: „Die frauenquotierte Auslosung des Huber-Fetischs“ gewann ausgerechnet ein Mann, und der war rein zufällig auch noch Mitarbeiter des Kultursenators und ehemaliger Rock-Beauftragter des Senats. Die Lufthansa verloste dann noch zwei Flüge ihrer „neuen Direktverbindung“ nach Dublin, die Landeszentralbank offerierte irgendwas aus Gold für die ersten 777 Bausteine. Als die Fernsehleute verschwanden, stieg die Stimmung langsam wieder an, man durfte Leo Bassi „live“ sehen, wurde dabei aber sicherlich schon wieder heimlich gefilmt.

Die vorgestellten Pläne für den Anhalter Bahnhof machen sich gut, vor allem die Öffnung mit einer Freilichtbühne zur Portalruine hin, wirkt, ähem, elegant. Wenn man aber schon ein ganzjährig bespielbares Tempodrom mit „kulturökologischem Konzept“ ausbrütet, in dem „Nebenräume als Kältepuffer“ (Architektendeutsch) auftauchen, jede Menge Solarenergie und eine „Kälte- Wärme-Kraft-Kopplung“ den Zuschauer modernstens unterhalten, sollte man auch die Finanzierung wie bei einem Windkraftwerk betreiben. Statt sich bei Hinz und Kunz anzubiedern und mickrige Hunderter einzusacken, bietet man Beteiligungen ab 10.000 Mark an, mit ordentlicher Verlustabschreibung und Rendite. Das wäre pragmatisch, zeitgerecht und, ganz unböswillig gesagt, der Klientel angemessen. 1998 wird das Tempodrom immerhin volljährig.

Ungeklärt ist bis jetzt noch der Standort des letzten Zeltjahres 1997. Wie wär's mit der Fläche direkt hinter der Portalruine des Anhalter Bahnhofs? Von hier aus könnte man prima bei einem Bier beobachten, wie auf der Tempodrom-Baustelle die Arbeiter das Eigentum abschaffen und unsere Bausteine vermauern.