Abschied von Aeros – welch ein Zirkus!

Der letzte große ostdeutsche „Circus Aeros“ kündigt mangels Publikums und Kapitals seine Abschiedsvorstellung an – und die Zirkusdirektorin inszeniert eine bemerkenswerte Show  ■ Aus Magdeburg Bascha Mika

Meine Damen und Herren! Willkommen im „Circus Aeros“ – bei seiner Abschiedsshow. Der letzte große ostdeutsche Zirkus schließt die Manege.

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Sitzreihe über Sitzreihe im Zwielicht der Arena. Helle Flecken, wo der Scheinwerfer die Gesichter trifft, große, halbdunkle Lücken dazwischen. Die Musiker verschwimmen im flimmernden Staub hoch oben auf der Empore. Tusch! Peitschengeknall. Gelbe Bestien traben in die Manege, reißen fürchterlich ihr Maul auf, ein Stock zischt durch die Luft, ein Satz, mit zuckenden Schwänzen hocken die Katzen auf den Podesten. „Im Zirkus geht es jeden Tag ums Ganze!“ Die Köpfe der Zuschauer fahren hoch, erspähen das silbrig glitzernde Gewand der Zirkusdirektorin zwischen den schwarzen Anzügen der Musiker. Die herbe Frauenstimme fährt fort: „Wir wollen Sie mitnehmen auf eine Reise durch die Geschichte der Fahrensleute, Gaukler und Artisten. ,Unsterblicher Zirkus‘ – so heißt unser Programm.“

Unsterblicher Zirkus? „Circus Aeros“ hat seine Todesanzeige aufgegeben und für den 1. Mai seine Abschiedsvorstellung auf den Elbwiesen in Magdeburg angekündigt. Und weil alle glauben, daß sie die ArtistInnen und Tiere von Aeros heute zum letzten Mal sehen, strömen mehr Magdeburger als je zuvor zum Leichenschmaus ins rot-blaue Zelt. Fernsehteams, Rundfunk- und Zeitungsleute wollen den Abgesang dokumentieren. Aeros ist als einziger Zirkus noch übrig aus dem Dreierverbund des ehemaligen DDR-Staatszirkus. „Busch“ und „Berolina“ haben bereits im vergangenen Jahr aufgegeben. Direktorin Christiane Samel hatte ihre MitarbeiterInnen noch einmal um sich versammelt. „Ich möchte, daß das Programm so über die Bühne läuft, wie alle anderen“, hat sie den Leuten eingeschärft. „Konzentriert euch!“ Brüsk hatte sie sich dann abgewendet, die Gruppe starrte ihr wortlos nach.

Die Show läuft wie geschmiert. Flinke Finger bauen den Raubtierkäfig ab, rollen die Bodenplane aus. Der Kraftmensch, gekleidet als römischer Gladiator, spannt die Muskeln. Schwere Kugeln an langen Ketten sausen über seinem Kopf. Die Zuschauer auf den vorderen Sitzen ziehen den Hals ein. Der Muskelmann stöhnt und stemmt, seine Assistentin in knapper Tunika strahlt und klettert als zusätzliche Last auf seine Schultern. Unter Johlen und Klatschen verschwindet das Duo lächelnd laufend hinter dem Vorhang. Im Sattelgang dahinter fällt das Lächeln von den Gesichtern ab. Übrig bleiben zwei schwitzende, keuchende Menschen, die sich die Bademäntel überwerfen und in Holzpantinen schlüpfen, um ihre Ballettschuhe vor Sägespänen und Tierkot zu schützen. Seit 22 Jahren ist Angelika Flüge Artistin. Sie assistiert bei der Kraftnummer ihres Mannes und turnt als „Rosewing“ am sechs Meter hohen Vertikalseil. Ein schmaler Körper, 151 Zentimeter trainierte Muskeln und Sehnen, aber Knie und Schulter sind kaputt. Sie ist 37 und wird weitermachen, „solange die Kraft reicht“. In der DDR hätte man sich als Artist „viel sicherer gefühlt“, hadert sie: „Der Aeros ist ein renommiertes Unternehmen. Uns kennt jeder im Osten. Trotzdem hat es nicht geklappt.“ Nun gehe es um „die Existenz“. Das spiegelt sich auch in den Mienen der KollegInnen, die sich im Sattelgang warmturnen. Geredet wird kaum.

Von den 120 MitarbeiterInnen bei „Aeros“ sind die 50 ArtistInnen noch am besten dran. Zwar ist man schon mitten in der Saison, trotzdem ist ein Engagement woanders nicht aussichtslos. Wenig Chancen dagegen haben die Arbeiter und Angestellten, die die 150 Tiere pflegen, das Zelt für 2.000 Leute in zweieinviertel Stunden abbauen und während der Vorstellung Hand anlegen.

Angelika Flüge meint, „die vielen kleinen Zirkusunternehmen machen den großen das Leben schwer. Die Leute können nicht mehr erkennen, wenn jemand wirklich gute Qualität liefert.“ Sie geht, um sich für die „Rosewings“ umzuziehen. Die ZuschauerInnen strömen aus dem Zelt. Pause!

Cola, Fanta, gebrannte Mandeln. Die Kinder können Pony reiten und für ein Foto auf einem der Elefanten posieren. In der Tierschau kaut Sindbad, das Riesenkamel, gelangweilt am Heu. Zirkuschefin Samel sitzt rauchend im Direktionswagen. Schmale, rot geschminkte Lippen, das Gesicht von harten Linien durchzogen, dunkle Haare im Kleopatraschnitt. „Begrabene Hoffnung“, murmelt sie, „hab' mich schon lange gefragt, wie lang ichs noch schaffe.“ Seit Anfang der 60 Jahre ist sie beim Zirkus, hat früher mit einer gemischten Raubtiergruppe gearbeitet und dann vor zwei Jahren den Namen des Markenunternehmens „Aeros“ von der Treuhand gekauft. Seitdem tourt sie durch die neuen Länder. Einige Wagen gehören ihr, der größere Teil ist von der Treuhand gemietet. 10.000 Mark pro Tag muß sie einnehmen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Kinder zahlen fünf, Erwachsene zwölf Mark auf den billigen Plätzen. Kinokarten kosten mehr. In Berlin hat die Saison im März gut angefangen, in Potsdam wurde es mau, in der Altmark waren es noch durchschnittlich 50 Zuschauer. Das will die Direktorin ihren Leuten nicht zumuten, sagt sie. Alle Gagen seien bezahlt, noch beliefen sich ihre Schulden auf nur 50.000 Mark. „Ich mache nicht Konkurs, und ich nehme mir jetzt auch nicht 'nen Strick“, grinst Samel hintergründig. „Aber was soll das denn noch? Die Hälfte der Ostdeutschen“, schimpft sie vor sich hin, „kauft und kauft. Die andere Hälfte hadert wegen der Mieten. Zum Leben gehört doch mehr, oder?“

Die Pause ist zu Ende. Im Zelt riecht es scharf und süßlich. In der Manege windet sich die Schlangenfrau mit ihren Reptilien, Angelika Flüge schwingt sich aufs hohe Seil, Pudel sausen über eine Rutschbahn, ein Akrobat im Drahtkäfig dreht sich unter der Kuppel. Das Publikum läßt sich treiben auf einer Wolke aus Sentimentalität und Nostalgie und hat vergessen, daß es eigentlich zum Abschiednehmen gekommen ist.

Tusch! Finale. Alle Akteure in die Manege! Direktorin Samel steht mittendrin. 1.200 ZuschauerInnen klatschen, stehen auf, trampeln. Angelika Flüge laufen Tränen übers Gesicht, ihrer Partnerin auch. „Ich sage nicht auf Wiedersehen, sondern adieu!“ verabschiedet sich Direktorin Samel.

Doch da marschiert eine Delegation von MitarbeiterInnen auf sie zu. Es wird ganz still. Eine Angestellte greift zum Mikrofon. „Frau Samel, stellvertretend für alle Mitarbeiter bitte ich Sie – machen Sie weiter!“ Samels Gesicht bleibt steinern. Das Publikum johlt auf. „Bitte! Machen Sie weiter!“

Aber sie hätten gar nicht bitten müssen. Ihre Direktorin überrascht mit einem eigenen Finale. Sie legt eine Kunstpause ein, um dann zum Höhepunkt der ganzen Show zu kommen: „Ich lasse Euch nicht im Stich“, ruft Samel ihren Leuten zu. Jetzt gucken nicht nur die Journalisten irritiert. „Ja, wir spielen weiter! Wir wollen es noch einmal versuchen. Und jetzt sage ich doch: Auf Wiedersehn!“ Das Publikum tobt. Was für ein Zirkus!

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Meine Damen und Herren! Auf Wiedersehen im „Circus Aeros“! Sie können ihn ab heute in Haldensleben sehen, am kommenden Wochenende in Genthin, dann geht es weiter nach Wittenberge.

Was für ein Zirkus! Noch nicht einmal im Quartier in Berlin-Hoppegarten, wo Tiere und Ausrüstung hätten unterkommen sollen, war man darüber informiert, daß es „Aeros“ seit dem 1. Mai nicht mehr geben sollte. Und was sagt die Direktorin zu ihrer letzten Vorstellung? „Soll doch jeder denken, was er will, so hätte es nicht weitergehen können.“