■ Die kroatische Armee greift die UN-Schutzzonen an
: Späte Quittung

Der Zeitpunkt des Angriffs mag überrascht haben. Doch daß Kroatien den militärisch geschaffenen Status quo nicht akzeptieren kann, war immer klar, und so hat es denn auch an warnenden Stimmen nicht gefehlt. Zur Erinnerung: Im Sommer und Herbst 1991 besetzten serbische Freischärler, unterstützt von der Luftwaffe und schwerer Artillerie der serbisch dominierten jugoslawischen Volksarmee, nahezu ein Drittel Kroatiens. Nach dem Fall von Vukovar einigten sich der kroatische Präsident Tudjman und sein serbischer Kollege Milošević auf Waffenstillstand und die Stationierung von Blauhelmen in den serbisch besetzten Gebieten Kroatiens (Ostslawonien und Krajina). Deren Auftrag war im „Vance-Plan“ der UNO vom Frühling 1992 festgelegt: Entwaffnung der serbischen Freischärler, Rückführung der Flüchtlinge, Wiederherstellung der kroatischen Staatshoheit. Nichts von alldem ist in den letzten drei Jahren geschehen.

Nur wenige Stunden nach dem kroatischen Angriff auf die serbisch besetzten Gebiete lief in Bosnien- Herzegowina der Waffenstillstand aus. Die Regierung in Sarajevo weigerte sich, einer Verlängerung zuzustimmen – mit dem Hineis auf Kroatien. Drei Jahre lang, bis zum 31. März 1995, habe Tudjman schließlich regelmäßig einer Verlängerung des Mandats der UN- Truppen in den serbisch besetzten Gebieten seines Staates zugestimmt – mit dem einzigen Erfolg, daß die militärisch geschaffenen Tatsachen politisch immer deutlicher akzeptiert wurden. Genau das will die bosnische Regierung verhindern. Zu Recht befürchtet sie, daß die internationale Diplomatie sich mit der militärisch geschaffenen Lage abfindet und die serbische Kontrolle über 70 Prozent des Gebiets ihres völkerrechtlich anerkannten Staates akzeptiert. Und so setzen beide Staaten auf die militärische Karte. Die Antwort sind die gestrigen Granaten und Raketen auf Zagreb, und es kann schon morgen – wie gehabt – der massive Beschuß von Sarajevo sein.

Die Zeichen stehen auf Sturm. Daß Tudjman, innenpolitisch durch eine schleichende Erosion seiner Partei und sezessionistische Tendenzen in Istrien bedrängt, schon bald zur umfassenden Rückeroberung der besetzter Gebiete ansetzt, ist nicht auszuschließen. Jedenfalls kann er mit dem militärischen Schlag sein angeschlagenes Image aufpolieren. Ob die militärisch erstarkte bosnische Regierungsarmee Gebiete zurückgewinnt, ist höchst ungewiß. Aber sie hat angesichts der internationalen Tatenlosigkeit keine Alternative, ihre legitimen Interessen nach Wiederherstellung des Staates in den völkerrechtlich anerkannten Grenzen durchzusetzen. Nach dem diplomatischen Debakel und der politischen Katastrophe sind nun also wieder die Generäle am Zug.

Doch über militärische Erfolge in Kroatien und Bosnien wird letztlich auch in Belgrad entschieden. Wenn sich die Lage für die Serben in Kroatien und Bosnien verschlechtert, muß sich Milošević entscheiden: Entweder läßt er die serbischen Brüder fallen und läuft Gefahr, als Verräter am serbischen Volk dazustehen. Oder er kommt ihnen militärisch massiv zu Hilfe, was in Serbien zu einer weiteren Verarmung der Bevölkerung und damit zur Erosion seiner Herrschaft führen könnte. Milošević ist zwar gewiß ein Nationalist, aber noch wichtiger als ein Großserbien ist ihm die Erhaltung der eigenen Macht. Daß ihm diese mehr als einen Krieg wert ist, hat er bereits bewiesen. Und so könnte aus der nun gestoppten Offensive, die die kroatische Regierung zunächst als „begrenzte Aktion für eine friedliche Wiedereingliederung der Krajina-Serben“ bezeichnete, doch noch ein Flächenbrand werden, der sich auf Gebiete erstreckt, die bislang vom Krieg verschont wurden. Optimisten sei gesteckt: In den letzten drei Jahren ist es immer schlimmer gekommen als erwartet. Thomas Schmid