Die Kamera für ein Maschinengewehr gehalten

■ Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit: Vertreter des „Komitees zur Verteidigung von Glasnost“ kritisiert die russische Pressepolitik in Tschetschenien

Berlin (taz) – „Die Journalisten sind mit einer maskierten Macht konfrontiert. Weil sie kein Gesicht zeigt, braucht sie auch keine Verantwortung zu übernehmen“, beschreibt Juri Kasakow das Verhältnis zwischen russischen Journalisten und der Staatsgewalt. Zwar sei die Pressefreiheit im Lande Boris Jelzins in der Verfassung verankert, jedoch wüßten viele Staatsvertreter von diesem Umstand nichts oder ingnorierten ihn.

1991 gründete der ehemalige Bonn-Korrespondent der sowjetischen Presseagentur „Novosti“ gemeinsam mit 26 anderen Journalisten, Künstlern und Filmemachern das „Komitee zur Verteidigung von Glasnost“. Wenige Tage zuvor hatten sowjetische Truppen die Fernsehstation in Vilnius besetzt, der Hauptstadt des abtrünnigen Litauen. Die Gründung „war eine spontane Aktion von Leuten, die begriffen haben, wie wichtig Glasnost für die Gesellschaft ist“, erinnert sich der inzwischen 48jährige.

Fast vier Jahre nach dem Ende der Sowjetunion habe sich an der Abneigung des jetzt russischen Militärs und der Administration gegenüber einer freien Berichterstattung wenig verändert, erklärte Kasakow gestern auf einer Pressekonferenz der Organisation „Reporter ohne Grenzen“. Aktuelles Beispiel sei der Tschetschenien- Krieg. Zwar berichteten die russischen Medien ausführlich und kritisch über den Krieg, jedoch werde dies nicht etwa von der Regierung ermöglicht, sondern geschehe „trotz der Aktivitäten der russischen Behörden“. Zwar finde keine direkte Zensur oder Selbstzensur statt, das Problem sei jedoch die Informationsbeschaffung. Die russischen Stellen versuchten alles, „um den Informationsfluß aus Tschetschenien zu blockieren“. Die für die Öffentlichkeitsarbeit Zuständigen der in Tschetschenien einmarschierten russischen Militärs führten Journalisten bewußt in die Irre und enthielten ihnen Informationen vor. Russische Medien seien daher darauf angewiesen, ihre Mitarbeiter auf die tschetschenische Seite zu schicken. Dies habe dazu geführt, daß 90 Prozent der im russischen Fernsehen ausgestrahlten Kriegsbilder auf tschetschenischer Seite aufgenommen worden seien. Die russische Regierung behaupte daher, die Tschetschenen würden russische Medien dafür bezahlen, daß sie ihre Propaganda übernehmen. Laut Kasakow ist die Behauptung „Verleumdung“, schließlich sei „kein einziger solcher Fall belegt“.

Sorgfältig registriert Kasakows Komitee Verstöße gegen die Pressefreiheit, die fast täglich aus ganz Rußland gemeldet werden. Die monatlich erstellten Listen werden von zwei russischen Zeitungen veröffentlicht. In Tschetschenien hat die Organisation sechs in Ausübung ihres Berufs getötete Journalisten gezählt, darunter der Stern-Korrespondent Jochen Piest. 17 seien verletzt worden, zwei gelten als verschwunden, und mindestens 60 seien während ihrer Arbeit unter Beschuß geraten. Dafür sei unter anderem eine Anweisung der russischen Befehlshaber verantwortlich, wonach ihre Soldaten auf Personen schießen dürfen, „die sich ihnen mit gefährlich aussehenden Geräten nähern“. Die Militärs könnten daher das Feuer auf einen Kamerawagen eröffnen und hinterher behaupten, sie hätten die Kamera für ein Maschinengewehr gehalten. Thomas Dreger