Kalter Entzug in warmer Atmosphäre

Drogen und Sucht – eine taz-Serie. Teil 1: Heroin / Therapieeinrichtungen, Selbsthilfegruppen und Drogendienste bieten verschiedene Ansätze, um die Heroinsucht zu bekämpfen  ■ Von Peter Lerch

Klaus ist es kalt. Der 34jährige hockt mit geweiteten Pupillen auf dem Sofa, zittert und gähnt vor sich hin, während ihm trotz der inneren Kälte der Schweiß über die Stirn läuft. Keine ungewöhnliche Szene in der Entzugseinrichtung „Count down“, im Grunewald. Hier, einen Steinwurf vom Wannsee entfernt, bietet das Drogentherapiezentrum Berlin e.V. ein Entgiftungsprogramm für Heroinsüchtige unter dem Motto „Kalter Entzug in warmer Atmosphäre“ an, das von jedem Junkie kurzfristig genutzt werden kann.

Ein Anruf beim Drogennotdienst in der Ansbacher Straße genügt, um die Telefonnummer vom „Count down“ zu kriegen. Dort können Drogenabhängige täglich nachfragen, wann ein Entgiftungsplatz frei wird. Dazu betreibt das Drogentherapiezentrum zwei Übergangseinrichtungen, in denen bereits entgiftete Drogensüchtige auf einen Therapieplatz warten können.

Während Klaus hofft, in drei oder vier Tagen das Schlimmste überstanden zu haben, hilft er beim Geschirrspülen oder legt beim allmorgendlichen Hausputz Hand an. Etwa zwei Wochen will er bleiben. Mindestens solange wird es dauern, bis er wieder normal schlafen kann. Daß er das auch schafft, dafür sorgt eine Gruppe von fünf „Teamern“, die von drei Zivildienstleistenden unterstützt wird. Schon um zu verhindern, daß sich die Süchtigen zu sehr mit sich selbst beschäftigen, ist die Beteiligung an der täglichen Hausarbeit erwünscht.

Anschließend geht Klaus vielleicht in eine der Übergangseinrichtungen, wo er auf seinen Therapieplatz warten kann. Aber das ist für ihn im Augenblick noch eher eine vage Aussicht. Zunächst hat er noch genug mit seinem Turkey und der damit verbundenen Dauerschlaflosigkeit zu tun. Warum ging Klaus zum „Count down“, wo ohne medikamentöse Hilfe, also „kalt“ entzogen wird? Wo es doch Krankenhäuser gibt, in denen Heroinabhängige mit Methadon entgiftet werden? „Es ist sicher der härtere Weg, aber auch der schnellere!“ sagt der dreißigjährige Mann, der fahrig an einer Zigarette nuckelt, sich fester in eine Decke wickelt und trotz dauernden Gähnens voller Furcht an die kommende Nacht denkt.

Schlaflosigkeit ist auch das Hauptproblem von Gerd E., der bereits seit 14 Tagen bei Synanon in der Bernburger Straße ist. „Ich habe gestern zum erstenmal seit meiner Ankunft richtig geschlafen“, erzählt er. Der hagere 30jährige trägt eine verwaschene Latzhose und stapelt mit zwei anderen Süchtigen Geschirr auf einen Servierwagen, um die Tische für das gemeinsame Abendbrot zu decken. Das hat er von Anfang an, gleich am ersten Tag gemacht. „Die nehmen hier keine Rücksicht, haben mich gleich zum Abwaschen eingeteilt“, erzählt der Rheinländer.

Für ihn ist es das erste Mal, daß er versucht, vom Heroin wegzukommen und clean zu leben. Dazu hat er sich die unter Insidern als hart geltende Suchthilfe-Gemeinschaft ausgesucht, weil er an einfachere Wege für sich nicht glaubt. Schließlich hat er mehrere Jahre lang Heroin gespritzt. „In anderen Therapieeinrichtungen sind mir die Erfolgsquoten zu gering.“

Gerd H. ist einer von 1.500 Süchtigen, die pro Jahr zu Synanon kommen. Doch nur eine Minderheit hält das Abstinenzprogramm bei der Lebensgemeinschaft aus, das übrigens auch ein Rauchverbot beinhaltet. „Wer raucht, fliegt raus!“ erzählt Martin B., der bereits seit fünf Jahren dabei ist und auch noch nicht ans Weggehen denkt. „Keine Drogen, keine Gewalt, kein Tabak, das sind die drei Regeln, die hier eingehalten werden müssen.“

Darüber hinaus gibt es bei Synanon einige Richtlinien, die zu beachten sind. Während einer halbjährigen Kontaktpause, in der keinerlei Außenkontakte stattfinden sollen, wird das neue Gemeinschaftsmitglied nicht allein auf die Straße gelassen. Grund: Der oder die neue MitbewohnerIn soll sich mit sich selbst auseinandersetzen – keine einfachen Auflagen, wie Martin einräumt.

Gerd E. indes findet es besonders hart, daß er nie allein ist. Denn eine weitere Richtlinie der abstinenten Lebensgemeinschaft sieht vor, daß ein Neuer in den ersten vierzehn Tagen permanent durch einen Älteren beaufsichtigt wird. „Reine Sicherheitsmaßnahme, die verhindern soll, daß uns einer umkippt und niemand in der Nähe ist, wenn einer beim Entzug einen epileptischen Anfall bekommt“, erklärt Martin B. und weist darauf hin, daß die meisten der ankommenden Junkies Politoxikomanen sind, die neben Heroin auch Kokain, Kodein, Schlaf- und Beruhigungsmittel und häufig auch noch Alkohol konsumiert haben.

Die Entzugserscheinungen bei einem derartigen Mischkonsum könnten immerhin lebensbedrohlich sein. Die Überwachung der Neuankömmlinge durch alteingesessene Gemeinschaftsmitglieder zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben bei Synanon und endet praktisch nie. Martin B.: „Wir sind hierarchisch strukturiert. Wer länger hier ist, hat mehr zu sagen.“ Ein Konzept, das sich seit den Anfängen der 1971 von Betroffenen für Betroffene gegründeten Suchthilfe-Gemeinschaft bewährt hat. Zu Synanon kann jeder kommen, der aus seiner Sucht herauswill. Auch Paare und süchtige Mütter und Väter mit ihren Kindern werden aufgenommen. Es gibt keine Altersbegrenzung und keine Wartezeiten.

Das therapeutische Herzstück bei Synanon ist das „Spiel“, das täglich stattfindet. „Beim Spiel sind die allgemeinen Richtlinien teilweise außer Kraft gesetzt“, erklärt Martin B. Das Rollenspiel dient dazu, Konflikte zu klären und Probleme zu bewältigen. „Da kann es schon mal laut zugehen und zu verbalen Auseinandersetzungen kommen. Gewalt und Drohungen sind selbstverständlich auch beim Spiel nicht erlaubt, aber da darf der eine oder andere schon mal unflätig sein.“

Neben dem Haus in der Bernburger Straße, in dem derzeit rund hundert Männer, Frauen und Kinder leben und arbeiten, betreibt Synanon noch das Landgut Fleckenbühl in Hessen und ein Gehöft im brandenburgischen Schmerwitz sowie ein neues Haus in der Berliner Herzbergstraße. Dort wird die Selbsthilfeorganisation in Zukunft ihren Hauptsitz haben und die verwaltungstechnischen Angelegenheiten der rund 450 bei Synanon lebenden Menschen regeln. Selbstverwaltet und eigenverantwortlich, gemäß dem Synanon-Leitsatz: Leute lernen leben.

Anders als bei international anerkannten Suchthilfegemeinschaften, wo jeder rund um die Uhr kommen kann und gewiß aufgenommen wird, ganz gleich, wie alt er ist und welche Sucht ihn peinigt, muß man beim Anti-Drogen-Verein e.V. (ADV) bereits vom Heroin entgiftet sein, wenn man aufgenommen werden möchte. Zudem müssen Süchtige, die beim ADV aufgenommen werden wollen, wie bei den meisten der 17 stationären und ambulanten Berliner Drogentherapieeinrichtungen eine gültige Kostenzusage eines Kostenträgers nachweisen. Erst dann können die Betreffenden in die Flughafenstraße oder nach Birkenwerder ziehen, wo insgesamt 56 Therapieplätze zur Verfügung stehen. Das Programm ist genau definiert und besteht aus einer zweimonatigen Kontakt- und Motivationsphase, einer darauffolgenden etwa vier Monate dauernden Stabilisierungsphase sowie aus einer dreimonatigen Praktikumsphase. Daran schließt sich eine etwa dreimonatige Übergangsphase an, in der Perspektiven für die Zeit nach der Therapie entwickelt werden.

Der Selbsthilfegedanke spielt bei ADV nur eine untergeordnete Rolle. Ein Team, bestehend aus einer Ärztin, zwei PsychologInnen, SozialpädagogInnen, drei Erziehern, einem Lehrer und NachtdienstmitarbeiterInnen betreut die Heroinsüchtigen auf dem Weg in ein cleanes Leben. Dafür geht man bei ADV mit Partnerbeziehungen anders um als bei anderen Einrichtungen: Wer eine Partnerbeziehung neben und nicht statt der Therapie führen kann, kann das ruhig tun. Allerdings sind die professionellen BetreuerInnen, unter ihnen auch Ex-User, der Meinung, daß sexuelle Beziehungen erst in der zweiten Hälfte der Behandlung aufgenommen werden sollten.

Das Therapieangebot reicht von Tanz- und Bewegungsgruppen über Video-Workshops bis hin zu eigenem Fitneßraum und Sauna. Einmal im Verlauf der zwölfmonatigen Therapie machen die einzelnen Wohngruppen sogar eine gemeinsame Reise. Zum Erfolg der Behandlung lassen sich derzeit noch keine genaueren Angaben machen, weil die Einrichtungen in dieser Form erst seit 1994 bestehen.

Waltraud Stolz, Aufnahmekoordinatorin beim ADV: „Der größte Teil unserer Klienten lebt in Nachsorgeeinrichtungen, andere halten losen Kontakt.“ Zur Nachsorge beim Anti-Drogen-Verein e.V. zählen zwei Tischlereien und eine Kette von insgesamt sechs Holzspielzeugläden in Berlin.

Der Verein hatte richtig erkannt, daß zu einer dauerhaften Rehabilitation von Drogensüchtigen neben einem Freundeskreis und einer befriedigenden Wohnsituation auch eine zufriedenstellende Berufsperspektive gehört. Ob die allerdings auf dem Holz verarbeitenden und verkaufenden Sektor liegt?