Geduldig und ohne Gedächtnis

Vom Niedergang der Automatenkultur im Zeitalter der Benutzeroberfläche  ■ Von Jörg Häntzschel

In „Moderne Zeiten“ schiebt der nagelneue Futterautomat für Fabrikarbeiter Charlie Chaplin Schrauben in den Mund, kippt ihm die Suppe in den Kragen, läßt den Maiskolben rasend vor seinem Gesicht rotieren und bedroht ihn schließlich mit der Serviette: schöne Horrorvision einer automatisierten Welt, die so dann doch nie Wirklichkeit wurde. Automatische Restaurants gab es aber tatsächlich. Schon vor 100 Jahren zog sich die faszinierte Kundschaft am Zoo verschiedene warme Gerichte, belegte Brötchen und allerlei Getränke. Was gibt es heute noch am Automaten?

Paßfotos, unappetitliche Süßigkeiten, Cola und Kaffee, Zigaretten, Drehtabak und – „Ihre Frische“ – Kondome. Feuerzeuge und Pistazien in einigen Kneipen. Spritzen und Zubehör für Fixer. Und Futter für die Schafe im Zoo, das ein frisierter Kaugummiautomat in Kinderhände wirft, die dessen muffigen Geruch auch nach einem in ihnen zerschmolzenen Softeis nicht verlieren. Kaugummiautomaten erleben im Osten gerade eine kleine Konjunktur. Sonst sind sie selten geworden. Die harten, bröseligen Kugeln kamen ohnehin nie an die Qualität von Juicy Fruit heran, aber es gab ja die Hoffnung auf einen der wertvollen Ringe aus Blech.

Vorbei auch die Zeiten der ständigen Verfügbarkeit von – vielleicht etwas eingetrockneter – Bockwurst mit Kartoffelsalat an den Bahnhöfen der DDR. Bierautomaten auf der Straße sind heute verboten. Zeitungsautomaten wurden in Berlin zugunsten des Einzelhandels nie eingeführt. Die Automaten für Filme, Postkarten, Kugelschreiber und Blumen, in den fünfziger Jahren weit verbreitet, sind verschwunden. Nur bei Blumen-Pörschke in der Nonnendammallee kann man sich in dringenden Fällen für fünf bzw. zehn Mark noch ein Sträußchen besorgen. Auch der CD-Automat, der für ein paar Monate neben dem Eingang von WOM hing – ebenfalls ideal für Geburtstage, an die man sich erst nach Ladenschluß erinnert – wurde mangels Rentabilität abgeschraubt.

Schmerzlich vermißt wird der Fahrrad-Flickzeug-Automat. Ganz zu schweigen vom Automaten für preiswerte Kleinskulpturen aufstrebender Künstler, der einmal in der Dresdener Straße hing. Um Bedürfnisse zu wecken, sind die im Automaten weggesperrten Waren zu wenig präsent, um Personal zu sparen, ist die Wartung zu aufwendig. Nur der Pez-Automat wird wohl niemals sterben.

Automaten sind für Kinder, die nichts mit sich anzufangen wissen, für Reisende und für Großstädter, die tagsüber, wenn die Läden geöffnet sind, Größeres im Sinn haben als Vorräte anzulegen. Kein Wunder, daß sie ihre Blüte im Berlin der zwanziger Jahre hatten, der Hochzeit des Angestelltenwesens und der Metropolen-Euphorie.

Vor dem Automaten sind alle gleich. Rund um die Uhr zu Diensten, unbestechlich aber geduldig (und vor allem ohne Gedächtnis) bedient er jeden ohne Ansehen der Person. Dazu kommen das hübsche Geldgeklingel in seinem Inneren, die geheimnisvollen Geräusche der Mechanik und die Spannung: Wird er das in blindem Vertrauen eingeworfene Geld wirklich zur gewünschten Ware umwandeln? Halb ist man Chef, halb Opfer der Launen der Maschine. Notfalls hilft ein Faustschlag. Wenn es gelingt, den Apparat mit wertlosen ausländischen Münzen zu überlisten, läßt sich sogar ein feiger, aber nicht uneleganter Diebstahl ohne feuchte Hände begehen.

Am Automaten einzukaufen hatte immer schon seinen eigenen Reiz. Man wahrt die geschätzte urbane Anonymität; und oft ist es ja auch angenehmer, die roboterhaften Bewegungen der Kassiererinnen an ihrem Scanner nicht sehen zu müssen.

Der Kauf an der einst futuristischen Maschine ist zum gemütlich- nostalgischen Zeitvertreib geworden. Für Nicht-Nostalgiker haben die Maschinen jedoch nicht nur ihren Unterhaltungswert weitgehend eingebüßt. Welches Kind würde heute noch Geld in einen Blechstorch werfen, der „Mama“ sagt und ein Schoko-Püppchen auswirft? Wer sich vom Parfümautomaten einen von vier Düften ins Gesicht sprühen lassen? Die steinalten Personenwaagen, die mit ihrer noblen Mechanik und der nüchternen Mahnung „Prüfe Dein Gewicht“ noch auf vielen U- Bahnhöfen herumstehen, sind nur noch kurios.

Im Zeitalter der Benutzeroberfläche müßte die Automatenbenutzung schon zur echten Experience ausgebaut werden, um noch jemanden zum Griff an den Geldbeutel zu bewegen. Schon immer versuchten Hersteller und Kundschaft, die Maschinennatur des Automaten zu verschleiern, damit man ihn ein bißchen liebhaben kann. Der „stumme Verkäufer“, „einarmige Bandit“ oder die „stählerne Kuh“ grüßen nun per Display gerne mit „Hallo“ oder, dämlicher, „Willkommen“. In den USA hat man Coke- und Softeis- machines schon eine Stimme geschenkt. „Hi, I'm your talking vendor“, stellen sich diese – ganz Marktschreier des ausgehenden 20. Jahrhunderts – vor, geben die nötigen Anweisungen und wünschen eine gute Zeit. Im „Savo“ in der Goltzstraße gibt es den sprechenden Verkäufer jetzt als Zigarettenautomat.

Eine italienische Firma geht indes rückwärts in die Zukunft. Der Orakelautomat „Mund der Wahrheit“, unter anderem am U-Bahnhof Alexanderplatz, ist eine hübsche Plastikkopie der römischen „Bocca della Verita“ und schafft mit seinem düsteren Gelächter die Symbiose von Delphi und Geisterbahn. Für den Orakelspruch nimmt er eine Mark. Begleitet von fiebrigem Geflimmer und unverständlichen Drohungen wird an der in den Mund gelegten Hand angeblich irgend etwas gemessen, bis schließlich ein kommentierter Biorhythmus aus dem Schacht fällt. 14.46 Uhr: „Sie treffen Ihre Entscheidungen sicher und verantwortungsvoll.“ 14.47 Uhr: „Mit Stress und Nervosität werden Sie ziemlich schlecht fertig.“

Nicht weit vom „Mund der Wahrheit“ findet man häufig eine Kunststoffbox mit Tastatur, an der sich dilettierende Angeber Visitenkarten drucken lassen können. Auch für Gedichte, heißt es, sei dieses Gerät geeignet. Da lobe ich mir doch den Prägeautomaten am Fernsehturm, der 2-Pfennig- Stücke zu ovalen Gedenkmünzen mit der Aufschrift „9. November – Öffnung der Mauer“ quetscht. Er steht wenigstens offen zu seiner Nutzlosigkeit.