So wird man vergessen

Versuch über einen Nicht-Ort: Oklahoma City, Oklahoma  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Flucht. Amerika ist gepflastert mit Provinzen, aber Oklahoma ist ein Sonderfall. Es gibt zwei Möglichkeiten, Oklahoma zu entkommen, in den Westen oder in den Osten. Die migrant workers Mitte der dreißiger Jahre, auf der Flucht vor Armut und Sandstürmen – dem schieren Nichts –, haben fast sämtlich den Westen gewählt. Millionen kamen nach Kalifornien, wo durch ihr massenweises Erscheinen die Löhne in den Keller fuhren. Daß die Bewohner des fragilen Paradieses am Pazifik ihre Ankunft nicht herbeigesehnt hatten, war den Fremden sicherlich klar. Es braucht eine Generation, bis der skandinavisch anmutende Singsang der Oklahomans verlischt.

Der Weg in den äußersten Westen ist der Weg der frontiersmen, die historische Option, die nationale Variante. Der Osten ist die kulturelle Option: New York, in der Biographie eines Oklahomans ungleich unwahrscheinlicher, aus zweierlei Gründen. Erstens ist es der Bruch mit dem einzigen verläßlichen Erbe, nämlich in den „Westen“ verschlagen worden zu sein. Zweitens ist der Rückstand an Bildung, Flexibilität und Vorstellungsvermögen innerhalb eines Lebens kaum aufzuholen.

Eine Mitte von nirgendwo. Tennessee hat seine Countrymusik, Nevada sein Las Vegas, Utah seine Mormonen, Colorado sein Skigebiet und Kansas liegt genau in der Mitte. Unterhalb von Kansas liegt Oklahoma.

Um sich Identität zu geben, verstehen sich Oklahomans als so etwas wie nördliche Texaner. Es gibt Dinge, die über die Nachbarschaft hinaus die beiden Staaten verbinden: die langsame Diktion, Viehzucht, Erdöl. Aber die Position von Texas jenseits der Ost/Westschattierung der Nation ist anders als im Fall Oklahomas deutlich zu erkennen: die ehemals kriegerische Nachbarschaft mit Mexiko (The Alamo), die Küste am Golf von Mexiko und zwei Metropolen, die nach Gründerfiguren benannt sind.

Für Texas gibt es eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, die damit zu tun hat, daß die Siedler ihren eigenen Platz behaupten wollten; gegen die Vereinigten Staaten oder in ihnen. Deshalb ist Texas der Keil zwischen den Aporien des schwülen Tiefen Südens und der Unbegreiflichkeit des zerklüfteten amerikanischen Westens.

Oklahoma ist geographisch fast Mitte und historisch, was den Platz in der Nation betrifft, ein Vakuum. Im Rahmen des Louisiana Purchase 1803 von Washington eingekauft, wurde das Oklahoma Territory um die Mitte des Jahrhunderts – während die Besiedlung sich drumherum schloß – zum letzten garantierten Land flüchtender Indianer, darunter mächtige Stämme wie die Choctaw, Chickasaw, Creek, Seminole und Cherokee. Die mächtigen unter ihnen waren es, die schwarze Sklaven mit ins Territory brachten und sich im Bürgerkrieg auf die Seite der Konföderierten schlugen. So waren die Indianer Kriegsverlierer gegenüber der Nation, der sie gehörten, aber nicht angehörten. Die Wiederaufbau-Verträge brachten weitere vertriebene Stämme, die Eisenbahnen und marodierende weiße Siedler, die sich Boomers nannten. Das Grinsen, das mit dem Adjektiv „oklahoman“ überall (außer eben dort) billig zu haben ist, hat in dieser verkehrten Geschichte seinen Ursprung. Texas ist der Wirklichkeit gewordene Tagtraum des Siedlers, New England steht für die Geburt der Nation aus der europäischen Larve, Kalifornien für das Gegenteil per se. Der Staat, erst 1907 aufgenommen in die Nation unter dem Choctaw- Namen, der mit people/red (okla/ humma) in die Sprache der mächtigsten Siedler übersetzt wird, fristet seitdem sein Dasein als wenig gepflegtes Denkmal für das schlechte Gewissen der Nation.

Gebrochenes Versprechen. Sooners nannten sich die weißen Leute, die der offiziellen Freigabe des indianischen Lands am 22. April 1889 durch Washington zuvorgekommen waren, indem sie das von ihnen beanspruchte Land vor dem Stichtag heimlich abgesteckt hatten. In Adaption darwinistischer Vorstellungen ist der Sooner (der noch Baldigere) bis heute der selbstgeschriebene Spitzname der Leute, die sich aus Not an Gewesenem mit dem hinterlistigsten der Angreifer identifizieren. Nicht erst seit den Sandstürmen und der Depression, die den Traum vom eroberten Geschenk innerhalb einer Generation zunichte machten, werden die „Okies“ in neunundvierzig anderen Staaten als glücklose Primitive belächelt.

Eine Fotografie von Alexander Forbes zeigt drei nicht einmal doppelt mannshohe Holzfassaden in der Harrison „Avenue“ in Guthrie, Oklahoma. Links, mit Giebel, den Schuppen des City Marshall Office. Rechts, hinter der planen, rechteckigen Fassade (wie man sie in jedem Western sieht) das junge Busineß von Douglass & Clark, eine Kombination von Lunchroom, Lebensmittelladen und „Elite Bakery“. In der Mitte aber der wohl kaum anderthalb Meter breite Laden von Walker & M'Coy. Sie und andere Männer mit Hüten stehen herum. Was wirklich fasziniert an dem Bild, sind die Schilder, die in dem winzigen mittleren Laden hergestellt werden und – offenbar für den Fotografen – über die Fronten aller drei Gebäude vertikal aufgestellt sind. Sie konkurrieren mit den horizontalen Schildern, die an den Holzhäusern bereits angebracht wurden. Man sieht plötzlich die Primitivität der Zivilisation: Sie lebt von der Behauptung. Es gibt, für das Abenteuer der Landnahme, keinen Unterpfand. Die alte Ordnung von Namen und Verboten, im Fremden errichtet, erscheint als unfreiwillige Parodie der Quellen.

Fast grenzenlos. Ein Freund aus Oklahoma City, inzwischen mit Familie bei Washington lebend, bekam seinen ersten Lehrauftrag in einem Nest namens Weatherford im trockenen und flachen westlichen Oklahoma; arglosen Bauernkindern mit vagen Aspirationen auf Bildung mußte er, zum Beispiel, vermitteln, was ein Semikolon ist und welcher Sinn ihm rhetorisch zukommt. Auf der kurzen Fahrt vom Campus zu seinem Appartmenthaus sah man ein paar Dutzend Häuser mit schwarzen Scheiben: Verlassen, im Verfall, „an oil boom gone bust“. Abends drehte er seine Runden auf einer Aschebahn hinter dem Haus. Als angehender Schriftsteller, als Intellektueller war er so einsam wie ein russischer Dorflehrer im letzten Jahrhundert.

Kafka war sechs Jahre alt, als das Oklahoma Territory zur Raubnahme freigegeben wurde. In seinem ersten Roman, den Max Brod „Amerika“ nannte, der aber eigentlich „Der Verschollene“ hieß, sehen wir Karl Roßmann auf einer quälenden Reise. Sie ist vor allem deshalb quälend, weil der Rahmenbau der Autorität, der Abhängigkeit nicht zu sprengen ist. Erst als er sich einem Kollektiv anvertraut – einer Mischung aus Zirkus, Sekte und Arbeitsbeschaffungsprogramm –, öffnet sich der psychische Horizont. Die Organisation heißt, im Original, „das Teater von Oklahama“. Als größtes Theater der Welt ist es „fast grenzenlos“: die Natur wird zur Bühne des Lebens, und wer sich ihr anvertraut, kann sich lösen von überkommenen Bezügen. „Oklahama“ ist eine Art Brunnen des Vergessens, in dessen Dunkelheit der Flüchtende fällt. Wer dort ankommt, wo das Drama echt ist, löst sich vollkommen von seiner eigenen Geschichte. So wie man vergißt, wird man auch vergessen.

Metonymie. Entgegen dem amerikanischen Prinzip ist Oklahoma City als größte Stadt des Staates auch dessen Hauptstadt. Dies oder die Gleichheit des Namens verführt zur Ungenauigkeit: Es heißt jetzt „in Oklahoma“ auch dann, wenn die Stadt gemeint ist. Als klassische Metonymie gelesen, ist daran etwas Richtiges: Oklahoma City hat genauso wenig Kontur wie der Staat, in dessen Mitte sie liegt. Daß man in Oklahoma City nicht nur irgendwie nirgendwo, sondern auch irgendwie ohne konkreten Bezug zur Zeit ist, liegt wahrscheinlich gar nicht daran, daß es so jung ist. Wenn nämlich die Holzstadt, die der Anfang war, noch stehen würde, wäre das im amerikanischen Westen ein Fall greifbarer Geschichte. Tatsächlich steht aber aus der Gründerzeit nur noch ein Haus, das man in der Nähe des Zoos als Freilichtmuseumsrest aufbewahrt hat. Krasser als die Städte Dallas oder Denver

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ist Oklahoma City eine Wucherung von Einfamilienhäusern, Appartmenthäusern, Parkplätzen, Freiflächen, Geschäftszeilen, öffentlichen Gebäuden, Wassertürmen und improvisierten Feine- Leute-Flecken, durchzogen vom unvermeidlichen Planquadrat, Verirrung ausgeschlossen. Allerdings sind in die Stadt mehrere selbständige Kommunen wie Puzzleteile eingelassen. Mein Schulbus fuhr in Oklahoma City los, hatte drei oder vier Haltestellen in Bethany, und kam in Oklahoma City an, um mich bei einer Schule abzusetzen, die Putnam City West hieß. Abgesehen von den Ortsschildern war kein Unterschied zu bemerken. Daß man täglich zweimal ein biblisches „Bethanien“ durchkreuzte, schien mir genauso wunderlich wie die Tatsache, daß die Schule nach einer Stadt hieß, die es außerhalb der Schule im Sprachgebrauch nicht gab. Und das könnte man auch über Oklahoma City sagen: ein Phantom. Während die Erfahrung, daß hinter dem Ortsschild nicht wirklich eine Stadt beginnt, für den Fremden letztlich ohne Belang ist, muß doch die Erfahrung, in Oklahoma City aufzuwachsen, eine bizarre Verwirrung stiften: die Vorstellung, daß die Städte der Welt nichts anderes seien als metonymische Extensionen, jeder Teil ein Exempel des Ganzen in dem Sinne, daß das Ganze nie zu haben ist. Allerdings ist diese Suburbia nicht, wie manchmal suggeriert wird, eine Anhäufung identischer Teile. Hinter unserem soliden, lücken- und schmucklosen Holzgartenzaun zum Beispiel endete eine nichtasphaltierte Sackgasse, die nur von einer der großen Avenues aus zu befahren war und an der kleinere Häuser ohne Klimaanlagen dösend in der stechenden Sommerhitze lagen. Mit unserer Straße, ihren gepflegten Vorgärten und elektrischen Garagentoren, hatte das nichts zu tun.

Downtown war, Mitte der siebziger Jahre, ein Ensemble von Geschäftsgebäuden, das von einem Gürtel ärmlicher Einfamilienhäuser umschlossen war, Reste der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre. Es gab, wie in anderen Städten, Versuche der Belebung, die jedoch von Abtötung nicht immer zu unterscheiden waren: zum Beispiel der Einbau eines gigantischen Tunnelsystems für Fußgänger, das die Bürogebäude, Cafeterien und Parkhäuser miteinander verbindet. Zu Beginn der neunziger Jahre hatte sich im Norden ein neues „Zentrum“ mit Geschäftsbauten und Hotels etabliert, eine groteske Baustelle unter einer Glocke von Staub. Selbst nach hundert Jahren hat der Boom noch keine klare Zeichensprache gefunden. An jeder Sorte Aufbruch nagt die Resignation.

Gefangen im Äther. Nach einem Jahr in Oklahoma City traf ich im Juli 1976 am Flughafen in Detroit eine Mitschülerin aus Deutschland. Schwankend zwischen den Sprachen, stotterten wir herum. Ich fragte sie, was für Musik sie möge, und sie sagte, „nichts Bestimmtes. Doch, J. J. Cale finde ich sehr gut“. Den Namen hatte ich noch nie gehört. Gefangen im mageren Äther Oklahomas, war mir der gewiefte Songwriter, dessen erste Platte „Okie“ hieß, nicht einmal beiläufig begegnet. Es sieht so aus, daß die guten Ideen Oklahoma verlassen (Cale lebt in L. A.), und das hat auch seinen Grund.

Bühne des Lebens. Seit zu Anfang des Jahrhunderts im östlichen Oklahoma Öl gefunden wurde (auch einige der dort ansässigen Indianer brachten es zu erheblichem Reichtum), haben sich in Tulsa mehrere hundert Firmen angesiedelt; auch einige Konzernzentralen hatten dort ihren Sitz, bevor sie nach New York wechselten. Der Fotograf Larry Clark wurde 1943 in Tulsa geboren und hat aus seinem Leben dort und in Oklahoma City zwei Bücher gemacht, die ihn als Künstler etabliert haben. Aber der Preis für die Bilder war hoch: die enge, gewaltsame Welt der Fixer war Clarks eigene. Die Freunde starben, und die Feinde blieben; erst nach einem Gefängnisaufenthalt entschloß sich Clark, Oklahoma für immer zu verlassen. Wirklichkeitsverlust und Erfindung sind in den Fotografien auf unheimliche Art miteinander verschraubt.

Später hat er berichtet, wie er mit vierzehn hörte, seine Großmutter sei von einem Auto angefahren worden: „Ich wußte, daß es ein Stück war, Theater, obwohl es echtes Leben war.“ Wie bei Karl Roßmann: die Bühne des Lebens. Da ist für „Kunst“ kein Platz vorgesehen. Wer sie unbedingt will, muß sie sich oder anderen aus den Rippen schneiden; Clark kannte beide Varianten.

Sprachlose Gebärde. In Thomas Pynchons zuletzt erschienenem Roman, „Vineland“, treffen sich der faschistoide Geheimdienstler Brock und seine schizoide Hippiegeliebte Frenesi in einem Hotel in der Nähe des Flughafens von Oklahoma City. Der Flug (von Kalifornien) dorthin, heißt es, „war wie ein Flug zu einem anderen Planeten“, was nicht weiter begründet wird. Aber es hat zu tun mit der Diskrepanz von Erwartung und Wirklichkeit. Eine riesige Tornadofront zieht gerade herauf, als Brock und Frenesi „nach mittäglichem Sex zwischen Plastikabfällen vor der Glotze“ liegen. Gerade als Frenesi „gedacht hatte, sie seien sicher und geborgen im Zentrum Amerikas, war die Luft von Geräuschen erfüllt, die keine Einbildung sein konnten: ein Donnern, zu dumpf für einen der Düsenjäger aus Tinker“ – gemeint ist der Fliegerhorst in Midwest City, eine Stadt, die ebenfalls wie ein Puzzlestück in das Gebilde von Oklahoma City eingeschoben ist – „und ein hartes Prasseln auf dem Dach, das nur von den Insekten einer göttlichen Plage stammen konnte. [...] Noch nie, nicht einmal mit Hilfe von LSD, hatte sie auf Erden einen solchen Himmel gesehen. [...] Im letzten Tageslicht und nahe genug, daß man sie erkennen konnte, schwang eine trichterförmige Trombe“, eine Windhose, „deren Spitze noch nicht ganz die Erde berührte, langsam, bedächtig hin und her, als suchte sie ein Opfer“.

Noch seltsamer als die Rückkehr der Wirklichkeit in Form der göttlichen Strafe sind die Wetterleute im Fernsehen. Sie „waren eigenartig still geworden. Anfangs fragte Frenesi sich, ob der Ton ausgefallen war, doch dann lachte einer von ihnen nervös, und die anderen fielen ein.“

Als Ergebnis des lieblosen Gesprächs im Motelzimmer, dessen Kulisse der Tornadosturm ist, fürchtet sich Frenesi vor einem weiteren „Schritt in das gefährliche und reale Erwachsenenleben, wie Sex, Kinder, Operationen, in das Geheimnis, [...] daß Kämpfen die Möglichkeit des Todes einschließt und daß die, für die man kämpft und die das Geheimnis noch nicht kennen und es oft nie erfahren werden, immer und in jedem Alter Kinder sind.“ Die Oklahoma-City- Szene endet damit, daß Frenesi dem schlafenden Brock zuflüstert, „was ihr Herz bewegte, und sah, daß seine Augen, von denen sie im Dämmerlicht geglaubt hatte, sie seien geschlossen, die ganze Zeit offen gewesen waren. Sie stieß einen kurzen, entsetzten Schrei aus. Brock begann zu lachen.“

Das Motel an der South Meridian Avenue in Oklahoma City: Ein Nicht-Ort, an dem die Extreme sich berühren, das dissidente Amerika und das repressive. Der Nicht-Ort antwortet mit einer sprachlosen Gebärde, die der Autor religiös auslegt, und die für die Protagonisten bedeutet, daß ihre Triebkräfte in Erscheinung treten: das Refugium der verlängerten Adoleszenz bei Frenesi, der Zynismus dessen, der sich nicht mehr fürchten kann, bei Brock. Oklahoma City ist so fern der Idylle wie man ihr fern nur sein kann; stirbt man hier, dann für nichts.