■ Gedanken für eine alternative Nahostpolitik
: „Perser? Kann ich auch nicht leiden!“

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa sind vergiftet. Die Europäer sehen die Türkei zunehmend als nicht integrierbares, schwer verständliches Land, dessen Interessen als Regionalmacht ihren eigenen Interessen in der Region widersprechen. Die undemokratischen, autoritären und militaristischen Traditionen der Türkei wirken wie eine unsichtbare Mauer. Europa erinnert sich dabei an die Türkenangst und -gefahr des ausgehenden Mittelalters, als die Armeen der muslimischen Türkei und des christlichen Europas einander für Jahrhunderte gegenüberstanden. Die Türken dagegen fühlen sich mißverstanden und mißbraucht. Als der Kommunismus eine Gefahr für den Westen darstellte, war die mit harter Hand regierte antikommunistische Türkei ein willkommener Partner. Heute gestaltet sich der europäische Blick auf die Türkei kritischer. Kommentare gegen die türkische Kurdenpolitik werden als feindselige Einmischung aufgenommen und hinter ihnen eine neue europäische Machtpolitik im Nahen Osten vermutet. Die Teilungsangst, ein Erbe aus der Endphase des Osmanischen Reiches, als europäische Mächte sich daranmachten, das zerfallende Reich unter sich aufzuteilen, ist nach wie vor spürbar. Sie wird von nationalistischen und islamistischen Kräften immer wieder aktiviert.

In Europa fand eine kritische Sichtung der imperialistischen Politik gegenüber dem Nahen Osten bislang nicht statt. So erscheint die Politik der EU gegenüber der Region in einer unglückseligen Kontinuität. Der Golfkrieg hat diesen Eindruck noch verstärkt.

Gibt es Wege aus dieser Krise? Der blutige Krieg zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Arbeiterpartei PKK zwingt zu neuen Gedanken über die Zukunft der Region.

Der Versuch, das kurdische Volk durch Assimilation aus der Welt zu schaffen, ist sowohl in der Türkei als auch im Irak gescheitert. Auch im Iran, dem dritten Land, in dem eine nennenswerte kurdische Minderheit lebt, wird der kurdische Widerstand seit Jahren nur mit repressiven Mitteln niedergehalten. Die Zersplitterung der Kurden in mehrere Staatsgebiete sowie die internen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans und die Tatsache, daß die kurdische Gesellschaft, wie alle Gesellschaften des Vorderen Orients, sehr heterogen zusammengesetzt ist, vermindert die Chancen für die Gründung eines kurdischen Nationalstaates. Dennoch bleibt der kurdische Nationalismus ein wesentlicher Faktor in der Region. Indem man ihn militärisch bekämpft, verstärkt man ihn nur.

Die türkische Politik in der Region wirkt widersprüchlich. Die moderne Türkei entstand auf den Fundamenten eines Vielvölkerstaates. Der Gründung eines türkischen Nationalstaats ging die Vernichtung der nichtmuslimischen Bevölkerung in Anatolien voraus. Die armenische und griechische Bevölkerung wurde vertrieben oder umgebracht. Die muslimischen Kurden sollten assimiliert werden. Die Türkisierung der Türkei wurde von einer von Europa begrüßten Modernisierung begleitet, die die Türkei ihrer Region entfremdete, politisch und gesellschaftlich an den Westen koppelte.

Eine ausschließlich an europäische Interessen gebundene türkische Außenpolitik paralysierte die natürliche Rolle der Türkei in ihrer eigenen Region. Im Algerienkrieg unterstützte die Türkei wie selbstverständlich Frankreich. Während der Suezkrise nahm man Partei für den Westen. Besonders deutlich wurden die Interessenwidersprüche zwischen dem Westen und der Türkei in Folge des Golfkrieges. Während die Türkei, als angrenzendes Land, eine rasche und bleibende Lösung für den Irak anstrebt, verfolgt der Westen bislang eine Politik der Erhaltung des Status quo. Das heißt, der Irak bleibt als Problem erhalten. Saddam Hussein wurde nicht gestürzt. Eine Demokratisierung in der Region wird nicht angestrebt. Die wirtschaftlichen Verluste der Türkei durch die geschlossenen Grenzen zum Irak gehen in die Milliarden. Der Einmarsch türkischer Truppen in den Nordirak scheint somit auch mehr das Ziel zu verfolgen, das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf das ungelöste Problem zu lenken, als die verstreuten Kämpfer der PKK zu verfolgen.

Am Anfang einer neuen Kurdenpolitik der Türkei müßte eine genaue Analyse der türkischen Außenpolitik stehen. Durch die Abkoppelung von der Region und eine einseitige Westbindung bringt sich die Türkei seit einem halben Jahrhundert in eine labile Randlage. Die unkritische Übernahme des vom Westen importierten Nationalismus und des Zentralismus hat den über Jahrtausende von unterschiedlichen Kulturen geprägten, durch religiöse und ethnische Vielfalt heterogen zusammengesetzten Nahen Osten in ein Pulverfaß verwandelt.

Eine Alternative zur bislang verfolgten Außenpolitik der Türkei kann nur aus ihrer geographischen Lage erwachsen. Statt am Rande Europas, könnte sich das Land auch in der Mitte einer Region wahrnehmen, die den Balkan ebenso umfaßt wie den Kaukasus und den Vorderen Orient. Einige türkische Historiker und Journalisten wie Mete Tunçay oder Cengiz Çandar, die für eine friedliche, politische Lösung des Kurdenkonflikts plädieren, machen immer wieder darauf aufmerksam, daß eine derartige Politik den historischen Voraussetzungen der Türkei entsprechen würde und einen positiven Einfluß auf die gesamte Region ausstrahlen könnte. Die Utopie einer demokratischen Nahost- Föderation, die auf demokratischen Staaten basiert, die von einem radikalen Nationalismus Abschied genommen haben, verspricht die Region dauerhaft zu befrieden und zum wirtschaftlichen Aufschwung beizutragen. Wäre eine solche Entwicklung nicht auch im Interesse des vereinten Europas? Doch solange die Europäer unter dem Mantel einer undefinierten Nahostpolitik ihre alte Kolonialpolitik fortsetzen, sind sie nicht in der Lage, den Nutzen einer solchen Entwicklung, die sie mit vorantreiben könnten, zu sehen.

In der Türkei wird sie von einer Allianz aus Bürokraten und Militärs verhindert, die mit Nachdruck ihre Aversionen gegenüber den Nachbarn der Türkei pflegen. Der Autor Murat Belge berichtet in seinem Buch „Wo auf der Welt liegt die Türkei?“ von einem Gespräch mit einem türkischen Offizier. Dieser habe ihm die geopolitische Lage der Türkei wie folgt dargelegt: „Im Norden unser Erbfeind, die Russen, im Westen ihre Handlanger, die Bulgaren, daneben die Griechen, unsere ärgsten Feinde. Im Süden zwei arabische Staaten, die uns feindlich gesonnen sind, und die Perser kann ich sowieso nicht leiden.“ Wenn man bedenkt, daß ein großer Teil der türkischen Politiker diese Einstellung teilt, braucht man sich nicht zu wundern, daß Geschichte im Nahen Osten mit Blut geschrieben wird. Zafer Șenocak