Generation der Gegenwart

■ Morgen werden im Berliner Ensemble Texte über Gewalt von Michael Wildenhain uraufgeführt. Ein Gespräch mit dem Regisseur Thomas Heise

Thomas Heise, Jahrgang 1955, ist Film- und Theaterregisseur. Seit 1990 ist er Mitglied des BE. Hier arbeitete er an Inszenierungen von Fritz Marquardt mit und inszenierte zuletzt Heiner Müllers „Zement“ im Kabelwerk Oberspree. Im Januar urinszenierte er Michael Wildenhains „Hungrige Herzen“ im Theater Heilbronn.

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taz : Michael Wildenhain versteht seine drei Stücke, „Hänsel und Gretel“, „Ins Offene“ und „Im Schlagschatten des Mondes“ als Trilogie. Es geht um Gewalt von rechts und wie man im Alltag damit umgeht. In einer Art Erlösungssequenz am Ende des letzten Stückes werden Skins die Augen aus den Köpfen geschält und gegessen. Das ist entsetzlich. Welche Reaktionen sollen da beim Publikum hervorgerufen werden?

Thomas Heise: Das ist eine Frage an den Autor. Bei uns ist der Handlungsverlauf anders. Ich habe Szenen von Wildenhains Trilogie montiert. In das Stück „Im Schlagschatten des Mondes“ Szenen aus „Ins Offene“ und daran anschließend „Hänsel und Gretel oder Die Armen zündet man an“. In dieser Montage ist der ursprüngliche Schluß von dem „Schlagschatten“- Stück durch „Hänsel und Gretel“ ersetzt.

Reaktionen kann man nicht rufen, auch nicht hervor, die gibt es oder gibt es nicht. Wir beschäftigen uns in der Inszenierung mit einem gewalttätigen Vorgang: ein Mensch wird aus einer S-Bahn geworfen, einfach so. Ich will nicht warnen vor Gewalt, noch dazu aufrufen, wenn ich mit zehn- bis dreizehnjährigen Kindern einen Text erarbeite, dessen Thema auch Gewalt ist, sondern mich interessiert, wie Wildenhains Text von diesen elf Kindern wahrgenommen wird. Das ergibt einen fremden Blick auf die Realität des Textes, und damit auf die Wirklichkeit, von der der Text handelt. Und das ist spannend. Und natürlich habe ich die Hoffnung, daß unsere Arbeit auch Zuschauer beschäftigt – wenigstens eine halbe Stunde auf dem Nachhauseweg.

Warum machst du das Stück, das ja kein Kinderstück ist, mit Kindern und Jugendlichen?

Ich habe mich vor der Moral der Erwachsenen – zu denen ja auch ich gehöre – gefürchtet. Das Angenehme bei Kindern ist, daß sie keine Moral haben. Das heißt, sie verhalten sich natürlich moralisch, aber sie haben nicht das Bedürfnis, diese Moral im Spiel zu transportieren. In einem Gegenwartsstück, wie es Wildenhains Text ist, gibt es sehr rasch das Bedürfnis von Schauspielern, das Gute und Richtige als Botschaft über die Rampe zu bringen, sich selber als auf der richtigen Stelle stehend zu zeigen – sehr ehrlich, aber oft stellvertretend für ein Verhalten in der Wirklichkeit.

Im Theater gibt es keine Wirklichkeit des Alltags, das ist ein geschützter Raum, wo man selten weiß, wie es nachts in einer S-Bahn aussieht, die nach Oranienburg fährt. Bei der Arbeit in Heilbronn, der Inszenierung von „Hungrige Herzen“, war das zum Beispiel so. Der erste Satz, den ein Schauspieler dort beim Besetzungsgespräch zu mir sagte, war: „Aber wir wollen doch hier nicht die Gewalt verherrlichen.“

Kinder haben solche Fragen nicht. Sie hätten gern alles so echt wie möglich. Sie wollen keine abgesägten Besenstiele, sondern Schlagstöcke aus Stahl. Sie wissen, wovon sie reden und was sie spielen. Auf Kinder projizieren Erwachsene Unschuld, aber Kinder sind nicht unschuldig. Sie bringen durch ihr Spiel die Straße ins Theater. Die elf sind übrigens alles wirkliche Kinder, noch keine Jugendlichen.

Bei Wildenhain zünden Kinder einen Obdachlosen an. Auch in der Realität sind Kinder mit Obdachlosen, Skins und Gewalt konfrontiert. Besteht nicht die Gefahr, eine Art „authentisches Theater“ zu machen, wenn Kinder sich selber spielen?

Wenn ich wüßte, was authentisch ist ... Und ist das eine Gefahr? Nein, die Kinder spielen mit ihren Mitteln Wildenhains Text. Sie wissen sehr genau, daß das nicht die wirkliche Wirklichkeit ist. Und ich arbeite ja auch mit meinem üblichen „Ballettwerk“: mit einer einfachen, schrägen Bühnenfläche, mit viel Bewegung, einem Chor und wenigen Requisiten. Und Kinder sind ja sehr gute Schauspieler, sofern sie nicht ambitioniert an die Sache herangehen und Schauspieler sein wollen. Und das wollen unsere Kinder nicht.

Sie sind sie selbst in einem fremden Raum, mit einer fremden Sprache und manchmal mit fremden Bewegungen versehen. Und das ist etwas merkwürdig anderes als das, was es sonst auf der Bühne gibt. Ich habe auch keine umfangreiche Talentsuche veranstaltet, sondern die Kinder haben sich gemeldet, weil sie Lust hatten, etwas zu tun. Und die, die jetzt dabei sind, waren einfach die stärksten Persönlichkeiten. Da stören mich dann keine Sprachfehler.

Die Inszenierung hat im Rahmen des BE-Programmes zum 8. Mai Premiere. Paßt das nur irgendwie oder paßt das gut?

Das paßt gut. Man könnte jetzt lange über den Tag der Befreiung reflektieren ... Das uns wahrnehmbare Sein alltäglicher Gewalt hat auch mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und dem Tag der Befreiung zu tun. Der 8. Mai war die Befreiung vom staatlichen Faschismus Hitlers, nicht gleichzeitig eine Befreiung von faschistischem Denken, von politischer und ökonomischer Kontinuität.

Es paßt auch, weil Kinder jetzt kein historisches Bewußtsein haben. Wir sind mit unseren Kindern zum Beispiel in den Thälmannpark gefahren, um Fotos zu machen. Alle Kinder, bis auf eines, kommen aus Schulen in Mitte, und sie fragten uns, ob der Thälmannpark im Osten oder im Westen sei. Und sie fragten: Was ist das, KPD? Sie leben absolut in der Gegenwart und nur da, wo sie gerade sind.

Ich bin, meiner Erinnerung nach, in einem historischen Kontext aufgewachsen. Sicher habe ich als Kind Geschichte falsch gedacht oder durcheinander, aber es gab immer ein grundsätzliches Gefühl für Zusammenhänge zwischen Vergangenem und der Gegenwart. Für die Kinder, mit denen ich arbeite, gibt es das nicht, für sie ist selbst die Wende, der Zusammenbruch einer Welt, eigentlich uninteressant.

Sie interessiert, wie sie die große, in Wirklichkeit sehr enge Welt jetzt für sich benutzen können, nicht, wo sie herkommt und warum sie ist, wie sie ist. Wildenhains Stück und die Arbeit mit den Kindern daran, macht auch diese Geschichtslosigkeit klar. Selbst wenn sie ein Verhältnis zu Zusammenhängen hätten – ihr Verhältnis zum Dritten Reich entspricht bestenfalls meinem als Zehnjähriger zu der Schlacht von Sedan: keine Ahnung. Wenn die Kinder mal Erwachsene werden, wird auf uns, die wir noch in einer anderen, alten Zeit leben, richtig etwas zukommen. Jetzt herrschende gesellschaftliche Strukturen basieren wesentlich auf einem Verständnis von Geschichte, das durch Faschismus, Krieg, Kriegsende und Kalten Krieg geprägt ist. Wenn das Wissen um diese Geschichte und ihren Zusammenhang mit der Gegenwart fehlt, wird es zu einer deutlichen Veränderung auch der gesellschaftlichen Strukturen kommen. Zersplitterung in Gruppen verschiedener Gegenwarten mit jeweils eigener Zeitrechnung halte ich für das Wahrscheinlichste. Am Ende findet man sich gerade mal in der eigenen Gang zurecht, alles andere ist Feind.

In Wildenhains Stücken finden sich viele pathetische Stellen. Zu Beginn des „Schlagschatten“- Stückes spricht eine Frau ein Gedicht über verbrannte Erde.

Das mit dem Pathos stimmt allerdings. Aber dagegen habe ich nichts. Pathos ist ein Bestandteil des Alltags, der Alltagssprache. Andererseits sind Wildenhains Stücke sehr offene Texte. Sie sind – das meine ich, ist eine Qualität – nicht fertig, manchmal nicht stimmig. Man hat also Probleme damit, und das ist gut so. Das Gedicht allerdings kommt bei mir nicht vor. So ein Endzeiteinstieg und dann eine Blende zurück, nein, das geht nicht. Wenn es so einfach wäre, könnte man es auch schlicht in Worten ausdrücken: Wenn die Erde denn verbrannt ist, werden wir wissen, daß der Bürgerkrieg in der U-Bahn der Anfang war. Ich wehre mich gegen eine so direkte Botschaft.

Was erstaunt dich am meisten bei dieser Arbeit mit Kindern?

Ihre Waffenkenntnis. In der Pause spielen sie mit Schmetterlingsmessern und Feuerzeugen. Letztlich sind das Spielzeuge, aber sie können gut damit umgehen. Und noch etwas: ihre absolute Ehrfurchtslosigkeit. Interview: Petra Kohse

„Der achte Mai“ am 7.5. im BE (Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte): 11 Uhr: „Mütter versteckt eure Söhne“ (mit Käthe Reichel); danach: „Ich war neunzehn“, DEFA- Film von Konrad Wolf (1968); 20 Uhr: „Im Schlagschatten des Mondes Hänsel und Gretel“ von Michael Wildenhain, Regie: Thomas Heise. 8.5., 20.30 Uhr (Probebühne): „Abschied von den Feinden“, szenische Lesung des Romans von Reinhard Jirgl.