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: Schöne Aussichten

Manchmal sind es vermeintliche Schwächen, die zum Erfolg führen. So heißt es von der US-amerikanischen Autorin Joan Didion, „daß ihre Schüchternheit als Interviewerin ihre Gesprächspartner so nervös machte, daß diese schließlich mit ungeplant offenherzigen Mitteilungen herausplatzten, bloß um die quälenden Konversationslöcher zu füllen“. Mit diesem Beispiel aus ihrem Buch „Einpersonentisch mit Aussicht“ zeigt die deutsche Reporterin Renate Just, daß Journalisten keineswegs die coolen, starken Menschen sein müssen, als die sie gemeinhin gelten. Es sind eher die genauen Wahrnehmungen, die ihr Buch auszeichnen. Etwa, wenn sich Just zum ersten Mal in die Zeit-Redaktion wagt: „Wie sie hier sprechen, so diskret und nasal und pointiert und mit einem verhaltenen Hauch von Ironie, wie sie über die Teppichböden schlendern, eine Hand in der Flanellhosentasche, oder in den Türen lehnen und kleine Witze in die Zimmer werfen ...“

Die freie Reporterin bekommt ihre Aufträge, und so dürfen wir mit ihr durch die Welt fahren. Mal geht es in die tiefste Provinz zu den einfachen Leuten, dann in die Großstädte zu den Schriftstellern oder mit dem Luxusdampfer übers Mittelmeer. Erst die Distanz verleiht dem Erlebten oftmals jenen Humor, der erst im nachhinein entstehen kann. Trotz der zahlreichen komischen Stellen vergißt man beim Lesen nicht, daß die Aussichten am Einpersonentisch bisweilen sehr trüb sein können: Mitte 40 und schon ausgebrannt? Nicht mehr gefragt auf einem Markt, der vor allem nach Jugendlichkeit lechzt? Finanziell nie den großen Sprung gemacht – trotz Zeit und Stern und pipapo?

Indem die Reporterin den Journalismus aus einer sehr subjektiven, menschlichen Sicht schildert, korrigiert sie den Mythos vom „Traumjob Reporter“; zugleich gelingt es ihr, diesem Beruf durchaus schöne Seiten abzugewinnen. So liefert sie eine Ergänzung des berühmten Spruchs von Egon Erwin Kisch: Nichts ist so aufregend, nichts ist aber auch so aufreibend wie die Wirklichkeit.Wolfgang Farkas

Renate Just: „Einpersonentisch mit Aussicht“. Verlag Antje Kunstmann, München 1995, 36 Mark.