Helden des Drahtseils

Ein wenig Woodstock: Einmal im Jahr wird in Bourges die Zukunft des frankophonen Lieds verhandelt  ■ Von Thomas Groß

Die „Frères Jacques“ Chirac und Toubon machten ihre Aufwartung schon kurz nach der Eröffnung, Lionel Jospin versprach, gegen Ende vorbeizukommen, sagte aber kurzfristig ab – wenn das mal nicht wertvolle Punkte kostet im Showdown um das Amt des Präsidenten am morgigen Sonntag! Denn der „Printemps de Bourges“, in diesem Jahr zum 19. Mal begangen, ist in Frankreich ein mediales Großereignis. Es geht um die Zukunft des Chansons, der staatlichen Kulturpolitik, die Repräsentation Frankreichs im Verhältnis zu den sogenannten Minderheiten im eigenen Land und in den ehemaligen Kolonien, außerdem um den stets prekären Ausgleich gegenüber der immerwährenden Invasion des anglophonen Rocklieds. Entsprechend vorsichtig drückt man sich in diesem Kontext aus. Er habe eigentlich keine speziellen Vorlieben, diktierte Jacques Chirac einem Reporter ins Mikrophon, für ihn seien alle, die den Weg hierhergefunden hätten, „formidables“.

Auch Daniel Colling, Leiter und Mentor des 1977 gegründeten Musikfestivals (und zugleich Betreiber des größten Pariser Rockclubs „Zenith“), spricht viel vom Gleichgewicht: der Haushaltsanteile, der Fördergelder, des auf 10 Bühnen realisierten künstlerischen Programms. Joe Cocker habe zwar leider abgesagt, doch mit der Verpflichtung von PJ Harvey, Megadeth, Therapy? und den Simple Minds sei es auch dieses Jahr gelungen, den französischen und frankophonen Acts ein attraktives internationales Pendant zur Seite zu stellen. Die Finanzierung: 7 Millionen Franc aus Subventionen (staatlichen, regionalen und kommunalen) und 5 Millionen Sponsorgelder (von Coca-Cola und Crédit Agricole, der französischen Landesbodenkreditanstalt) gegenüber 8 Millionen aus dem Kartenverkauf – für Colling absolut im Rahmen. Stolz klingt mit, wenn er darauf hinweist, daß man mit geschätzten 70.000 zahlenden Gästen den größten Konkurrenten, das Festival von La Rochelle, mal wieder auf die Plätze verweisen kann.

Nach Gainsbourg

Ein alljährlicher sechstägiger Kraftakt für die südlich von Paris gelegene Provinzstadt Bourges, dem allerdings mit wohlerworbener Routine begegnet wird – und dem Bewußtsein, daß eine 800jährige, dem heiligen Etienne gewidmete Kathedrale nur mäßig zur Prosperität der Region beiträgt. Dann schon lieber ein wenig Woodstock. Friedlich und wohlkontrolliert wälzt sich die Festival- Crowd über den üblichen Parcours mit Würstchen-, T-Shirt-, Poster- und Purpfeifenverkäufern, besucht eines der über sechzig Konzerte (die vielen offenen Bühnen und Kneipenshows nicht eingerechnet), die Händler verdienen, die Wirte verdienen, die Hotels sind ausgebucht, und die lokale Jugend verdingt sich im Festivaldreß als Kartenabreißer und Saalwächter. Die freiwillige Feuerwehr ist auch auf Posten – eine Idylle sozialer Integration, die bloß vom schlechten Wetter und der Vielzahl nichtzahlender Haste-mal- zwei-Franc?-Touristen ein wenig getrübt wird.

Wer glaubt, in dieser letzten Aprilwoche sei alles unter 25 wegen Megadeth oder Suicidal Tendencies unterwegs, versteht nichts von der ungebrochenen Strahlkraft des (allerdings mittlerweile sehr weit gefaßten) Chansons. Obwohl Le 'eavy Mettöl und Le 'ardcore in Frankreich traditionsgemäß starke Bastionen ihr eigen nennen, zieht es mindestens so viele zu Alain Bashung, Paul Personne oder Francis Cabrel, dem „d'Artagnan d'Astaffort“, der auf dem nationalen Markt sage und schreibe zwei Millionen seines letzten Albums abgesetzt hat (gefolgt von Alain Souchon mit 1,2 Millionen). Chanteusen der Musette- Tradition wie die robuste Juliette oder Enzo Enzo, die einer Art Easy-Listening-Variante des Chansons den Vorzug gibt, sind ein Ereignis für die ganze Familie. Rauschende Applause. Verständnislos wird man angestarrt, wenn man, zu spät gekommen wegen eines Parallelkonzerts, fragt, ob das auf der Bühne schon Félix-Hubert Thiéfaine ist oder noch Yassine Dahbi: In Frankreich genügt die zärtliche Nennung des klingenden Nachnamens – Souchon, Bashung, Thiéfaine – um für alle alles klarzumachen.

Die tiefere Natur dieser affektiven Bindung ist für Landesfremde nicht immer leicht zu ergründen. Thiéfaine, mit noch größerer Selbstverständlichkeit auch „HFT“ genannt, erwies sich bei seinem Konzert im Coca-Cola-Pavillon zwar als Abräumer erster Güte, nicht wenige junge Menschen mußten auf Bahren hinausgetragen werden (was auch, aber nicht nur an der schlechten Luft lag), doch mit Musik allein kann das nichts zu tun haben. Eher schon mit der mainstreammäßig verdünnten Überdauerung eines Modells: des stark zerknitterten Lebemanns, der sein Scheitern im Wissen um Frauen, Ökonomie und Absinth der Welt grandios zu Füßen bluest.

Im schlechtesten Fall gebiert dieses erweiterte Post-Villon-Post- Gainsbourg-Schema Epigonen à la Paul Personne (der französische Wolfgang Niedecken), im günstigsten Entertainer vom Schlage eines Jacques Higelin, der es fertigbrachte, in lässigster Conference eine „Putain de Soirée“ mit weitgehend weiblichen Vokalgruppen zu meistern und am nächsten Morgen noch tadellose Figur zu machen, als er in einer Pressekonferenz kettenrauchend über Sex, Milchkaffee und die Pflicht zum Antirassismus philosophierte. „Aux héros de la voltige“, den Helden des Drahtseils, ist sein letztes Album gewidmet, und zumindest er hält sich ganz gut da oben. „Higelin President“ schallte es lange noch.

Singen für Frankreich

Doch man muß kein Franzose sein, um das französische Chanson zu verkörpern. Die Eigenwerbung für das frankophone Lied, die ein Festival wie Bourges in der Hauptsache betreibt, zeugt von einem Selbstverständnis als Kulturnation, dessen letzte Integrations-, aber auch Expansionskraft die Sprache darstellt. So kommt es, daß ein Chansonnier wie Beethova Obas aus Haiti, in dessen scheinbar soften Liedern die Kolonialgeschichte noch recht deutlich herumspukt, immer auch auf Formen der Kolonisatoren zurückgreifen muß, um sich auszudrücken – vom Marketingweg über Paris ganz zu schweigen. Frankreichs Einfluß ist groß, und er wird deutlich unterstrichen. Auch Fefita la Grande aus der von Spanien kolonisierten Dominikanischen Republik, die in einem großartigen Konzert das Haus merenguete, scheint noch (romanische Sprache!) darunter zu fallen, und man wird den Eindruck nicht los, daß selbst Duke Robillard, ein englischsingender Bluesman, dessen Urururgroßeltern vor 200 Jahren nach Louisiana ausgewandert sein mögen, hier in Bourges irgendwie für Frankreich spielt.

Die kulturelle Selbstrepräsentation der Grande Nation ist damit zwar auf eine ziemlich phantasmagorische Ebene verschoben, doch selbst Jacques Toubons berüchtigtes Frankophonie-Gesetz, das eine Quotierung für französischsprachige Produkte vorsieht, kann die positiveren Seiten dieses Konzepts nicht vom Tisch wischen: Wer Kultur als Errungenschaft der Sprachgemeinschaft feiert, ist prinzipiell fortschrittlicher als diejenigen, die am Begriff der Ethnie kleben. Er muß sich, schon dem Selbstverständnis nach, öffnen für Vermischungen – der Hauptgrund dafür, daß die afrikanische Musik heute großenteils in Paris gemacht wird (und gemacht werden muß), dort aber auch die Chance findet, sich mit ihren Messages an die internationalen Produktions- und Distributionswege anzukoppeln. Auch davon erzählt ein Festival wie Bourges. „La musique, c'est universel“, verkündete die korsische Gruppe Diana di l'Alba von der Bühne herab, um gleich darauf mit einem Lied über den Comandante Che Guevara gepflegt separatistische Botschaften zu verbreiten.

Ohne diese Bereitschaft, unter dem Mantel der Frankophonie allerhand zuzulassen, sogar offizielle Förderungsgelder zu verwenden, wäre auch ein Phänomen wie der französisch rappende Claude M'Barali alias MC Solaar nicht denkbar. „Die größte Offenbarung seit Gainsbourg“ hat ihn das amtliche afroamerikanische HipHop-Magazin Vibes genannt, und ähnliches läßt sich auch von seinem Auftritt in Bourges sagen. Ohne MC Solaar, Soon E MC, Alliance Ethnik oder auch Sens Unik aus der Schweiz bliebe der frankophone Export der jüngeren Generation fast ganz auf die Negresses Vertes beschränkt.

La Bagatelle

Am diesem Vorabend des letzten Festivaltags scheint man sich allerdings auch in Bourges auf das Hochklappen der Bürgersteige zu freuen. Freundliche Müdigkeit breitet sich aus. Der „Printemps“, alle haben es geschrieben, war mal wieder von großer Bedeutung für die Geschicke des Ganzen, bloß daß Lionel Jospin nicht gekommen ist, ist hier, wo man traditionell links wählt, offenbar schwer zu verkraften. Während Chirac in einer Pariser Lokalität namens „La Bagatelle“ konservative Geschlossenheit demonstriert, ergeht sich das Lokalblatt Le Berry (so heißt die Region) in eilends herbeigezauberten Berichten über die sechziger Jahre, in denen Jospin als in die Provinz verschlagener junger Verwaltungsangestellter die lokale Landwirtschaft erforschte und dabei auch mehrer Male kräftig in Äpfel der Züchtung „Saint-Martin-d'Auxigny“ gebissen haben soll.

Gerne hätte man noch ein bißchen mehr Einfluß genommen auf das große Geschehen, zumal ja auch die Mitterrands Kinder der Region sind. Seit dem 17. Jahrhundert, berichtet Le Berry, waren sie als Winzer und Seilmacher in Bourges ansässig – das kann sich doch sehen lassen. Schließlich sei Théodose, der Großvater von François, erst 1919 aus der Gegend abgehauen.