Menschen als Manövriermasse

Der Krieg in Tschetschenien richtet sich immer mehr gegen die Bevölkerung / In „Filtrationslagern“ werden Zivilisten festgehalten  ■ Aus Grosny Klaus-Helge Donath

Baudi möchte noch etwas bei seinen Verwandten abliefern. In Artjemowski am nördlichen Stadtrand Grosnys. Er biegt von der Hauptstraße auf den Dorfplatz ab und verschwindet eilig hinter einem grünen Eisentor, das fast jedes tschetschenische Landhaus zur Straßenseite hin begrenzt. Trommelfeuer setzt ein, wenige hundert Meter weiter. Geschosse pfeifen in alle Richtungen. Tiefdumpfe Abschüsse, begleitet von klackernden Maschinengewehrsalven. Die Dorfbewohner stehen wie angegossen, bevor sie hinter ihre Mauern stürzen. Auf der Hauptstraße rast ein Schützenpanzer vorbei. Das Mündungsfeuer seines Granatwerfers hält aufs Dorf. Die Gewehrsalven reißen nicht ab. Wohin? „Wo nicht geschossen wird“, meint Baudi.

Drei Jugendliche erheben sich aus dem satten Gras gegenüber der Dorfausfahrt. Sie schlendern davon, die Kalaschnikows lässig über die Schultern gehängt. Ein Scheinwerfer im Zwielicht der Dämmerung. Zum Kalkulieren keine Zeit. Der Schützenpanzer steht quer zur Straße, aus dem Motor qualmt's. „Raus, Hände hoch!“ brüllt ein Soldat, die MP im Anschlag. „Ausländer!“ schreit Baudi noch im richtigen Moment. Die Soldaten stehen unter Schock. Im Gras liegen zwei ihrer Kameraden, blutverschmierte Kissen um sie herum. Ihre Gesichter bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die Überlebenden haben sich im Graben verschanzt. Eine Abwehrfaust hatte ihren Panzer an der hinteren Luke erwischt. Die Jungens an der Dorfausfahrt mußten auf ihn gewartet haben.

Eine alltägliche Szene in Tschetschenien. Die Russen haben Grosny besetzt und eine Marionettenregierung installiert. Doch sie beherrschen den kleinen kaukasischen Landflecken nur am Tage. Mit Einbruch der Dämmerung gehört das Land den Tschetschenen. Jenen, die für den untergetauchten Präsidenten Dudajew kämpfen, und solchen, die sich für Greueltaten der russischen Okkupanten rächen wollen. Mittlerweile stellen sie die Mehrheit. In kleinen Gruppen ziehen sie durchs Land. Tagsüber verstecken sie ihre Waffen in den Wäldern, nachts versetzten sie den Feind in Angst und Schrecken.

In Grosny scheint die Sonne. Nach und nach kehren Flüchtlinge zurück. Offiziell sollen es schon 270.000 der einstmals 400.000 Einwohner sein. Doch wo kommen sie unter? Die ganze Stadt ist eine Ruinenlandschaft. Kaum ein Haus, das nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Verbrannte Erde. Die Stromversorgung liegt brach, Wasser schöpfen die Überlebenden aus geborstenen Rohren auf der Straße. In einigen Quartieren gibt es wieder Gas. Der Schutt auf den Straßen im Zentrum rund um den wochenlang umkämpften Präsidentenpalast ist beiseite geräumt. Polaroidverpackungen versehen den aufgerissenen Boden des Vorplatzes mit Farbtupfern. Dazwischen Schrapnellsplitter, wuchtiges abgesprengtes Gußmetall und ein Funkgerät mit der Aufschrift: „Achtung, Feind hört immer mit!“

An den zerschundenen Wänden haben sich die Eroberer verewigt, die SOBR, die schnelle Eingreiftruppe für besondere Aufgaben. Das ganze Land sollte dabeisein, scheint es. Sie kamen aus dem Fernen Osten, aus Balgoweschensk an der Grenze zu China, aus dem Ural, aus Sibirien, aus Jaroslawl und Murmansk. Mit Videokameras, wohl aus dem Beutegut, halten Soldaten ihre Erinnerung fest. Sie machen den tschetschenischen Jugendlichen Konkurrenz, die Polaroidfotos anbieten.

Ein Soldat in Turnschuhen, eine Pulle Wodka in der Hand, läuft seinen Kameraden hinterher, vorbei an Fahnenstangen, die wie abgebrannte Bäume aus dem Boden luken. Es wird gefeiert, als hätte man einen grandiosen Sieg errungen. Alkohol wurde aus der Stadt verbannt. Daher ist er nun die Hauptwährung. Besoffene Soldaten sieht man überall, ob im Stabsquartier der Armee oder auf offener Staße. Haben sie genug intus, fangen sie an, um sich zu schießen.

Einen Steinwurf von hier entfernt über den Sunschafluß – für Wochen Demarkationslinie der Front – planieren Walzen die kläglichen Häuserreste ein. Der Journalist Wachta wohnte hier. Im Dezember lud er noch zu einem bescheidenen Mahl in seine Wohnung. Er ahnte den Horror, sagte aber nichts. Nichts erinnert mehr an sein Haus. Die Silhouette der Stadt wurde in einem Feuersturm hinweggefegt. Dennoch meint der stellvertretende Bürgermeister Danilow: „Wir bemühen uns, den architektonischen Charakter der Hauptstadt zu bewahren.“

Die Einwohner Grosnys machen sich nicht an die Aufräumungsarbeiten. Eigenartig. Sie warten! Auf eine Kommission aus Moskau, die den individuellen Schaden aufnehmen soll. Über das Geröll stöckeln Damen in hochhackigen Schuhen, als sei nichts geschehen. In der ehemaligen Straße der Freiheit wird zwischen 11 und 18 Uhr wieder Pediküre angeboten.

Im Stab der Armee am Flughafen bemüht sich Presseoffizier Alexander Kutz um Freundlichkeit und Entgegenkommen, während Verwundete aus dem Spital herausgetragen werden. Die Decken zeichnen es ab. Arme oder beide Beine verloren. Man hievt sie in den Krankenwagen wie Vieh. Ein Verwundeter mit Bauchschuß schreit auf vor Schmerz, obwohl er schon eine Dosis Morphin bekommen hat. Kutz verfolgt eine neue Pressepolitik: Hilfsbereitschaft ist angesagt und Offenheit bis zu einem gewissen Maße.

Doch das bleibt folgenlos. Der kommandierende General steht nicht zur Verfügung. Er hat Halsschmerzen. Außerdem kann er nur nach entsprechender Subakkreditierung Auskunft geben, die vom Vertreter der Russischen Föderation in Grosny erteilt wird. Der ist nicht zugegen, oder es fehlen die Formulare! Augenzeugen nicht erwünscht. Kutz gibt die Verluste vom Vorabend bei Artemowski mit drei Toten und acht Verletzten an. Ein Konvoi mit Heimkehrern, die ihren Dienst hinter sich hatten, sei angegriffen worden. Vor Ort sah es anders aus...

Unterdessen hat Fahrer Baudi gegenüber im Feld bei den Soldaten Treibstoff besorgt. Die Armee macht Geschäfte mit dem Feind, unverhohlen. Alles soll erhältlich sein. Waffen, Munition und was sonst noch zur Ausrüstung einer Streitkraft gehört. Einzige Frage: Geld oder Wodka und wieviel?

Die Rückkehrer arrangieren sich mit den Besatzern, die mit ihren Kalschnikows über die kärglichen Märkte streifen. Diese befinden sich dort, wo sie immer waren. Nur fällt die Orientierung schwer. Die Frauen lächeln in der Hoffnung, etwas loszuwerden. Am Schaschlikgrill spaßen Soldaten, die im Pulk erschienen sind. Die Frau ulkt mit, schließlich sind es Kunden. Gute Kunden. Die Wodkaflasche baumelt an der Innenseite der Uniformjacke. Sie verziehen sich endlich, und die Frau dreht sich um: „Was sollen wir denn anderes machen? Gute Miene zum bösen Spiel?“ Sie bricht in Tränen aus. Wir ertragen es nicht mehr, sagt sie, dann verschwindet ihr Kopf in der Schürze.

Alle haben sie Angehörige verloren, nicht nur in der Hauptstadt. Die Weiterfahrt nach Samaschki – hier hatten russische Einheiten Anfang April mehrere hundert Zivilisten umgebracht – blockieren ausgebrannte Militärtransporter. Munitionskisten liegen rum, Blindgänger und frische Geschosse übersäen den Matsch. Am Horizont zeichnet sich der Ort ab. Es wird zu riskant, nur über einen Umweg läßt sich Samaschki erreichen. Eine Leuchtrakete fällt fünfzig Meter vor dem Wagen in ein Feld. Soldaten fordern uns auf, langsam heranzufahren. Dann einzeln vorrücken. Die Straße sei vermint, Durchfahrt verboten, meint der Kommandeur.

Endlich in Samaschki angekommen, ein Bild des Grauens: Frauen stehen an der Straßenecke vor verkohlten Ruinen. Eine zeigt auf das verrußte Drahtgestell eines Bettes, auf dem ihre Tochter verglühte. Die Häuser tragen keine Spuren von Gefechten, sie wurden einfach mit Feuerwerfern niedergebrannt, egal wer sich darin aufhielt.

Asja verlor ihren Mann und ihre Tochter. Den Mann warfen die russischen Soldaten in einen Autograben und schossen auf ihn ein. Sie schleppte den Verwundeten nach Hause. Am nächsten Tag kamen sie wieder, warfen Handgranaten ins Haus und eröffneten das Feuer. Auch ihre Tochter wurde schwer verwundet, dann hielten sie den Feuerwerfer auf die Reglose. Asja spricht in Trance, ihre Stimme versagt. Dann zwingt sie sich weiterzureden: Vier Straßenzüge wurden so vernichtet. Der Untersuchungsleiter des russischen Parlaments, Goworuchin, besuchte den Ort und konnte keine ungewöhnlichen Greueltaten feststellen. Die Frauen haben sich ewige Rache geschworen. Wohl das einzige, was sie noch auf den Beinen hält. Von ihnen gibt es Tausende. Denn kaum ein Dorf wurde verschont. Zerstörung, so weit das Auge reicht.

Jawus Achmadow ist ein Bekannter. Im Winter saß er im Übergangsrat der Opposition im Norden des Landes. Damals verteidigte er vehement die Hilfe russischer Truppen, um den kaukasischen „Duce“ Dudajew zu vertreiben. Und heute? Er zeichnet verantwortlich für das offizielle Presseamt der tschetschenischen Regierung unter Chadschijew. Ihm ist es peinlich, so deutlich die Abhängigkeit von Moskau unter Beweis zu stellen. Die Vertreter der Russischen Föderation unter Nikolaj Semjonow haben jetzt wieder das Sagen in Grosny. Alles andere ist Camouflage. „Wir dachten, sie kämen, um uns zu retten. Das Gegenteil ist eingetreten. Das Ziel war richtig, die Methoden waren grausam, überall nur Diebstahl und Mord“, klagt er. Als keiner seiner Kollegen zuhört, bittet er uns, ins südlich der Hauptstadt liegende Stary Atagi zu fahren. Nie habe jemand von dort berichtet. Kein Stein stehe mehr auf dem andern.

An der Stadtausfahrt, hinter der brachliegenden Fabrik „Roter Hammer“, erstreckt sich das ehemalige Busdepot der Stadt. Tag und Nacht halten Wagen hier. Das Depot beherbergt den PAP Odin – ein sogenanntes „Filtrationslager“. Willkürlich von der Straße Aufgegriffene werden dort mit Kriminellen zusammengepfercht. Die dienen den russischen Soldaten als Manövriermasse im Gefangenenaustausch oder nur um Geld zu schinden. Mütter, Frauen, Schwestern, Brüder warten vor dem Stacheldraht mit Fotos der Vermißten. Gelegentlich kommt ein Wachhabender und schaut sich die Porträts an. Meist hören sie: Nicht bei uns. Dennoch harren sie aus. Einige vermissen ihre Nächsten schon seit zwei Monaten. Ein Spießrutenlauf von Behörde zu Behörde führte zu nichts.

Die Musik läuft, damit man das Geschrei der Gefolterten nicht hört. Eine Mutter sucht ihren Sohn, der von der Weide nicht zurückkehrte. Zum Kuhtreiben hatte er seinen Paß nicht mitgenommen. Sie weiß von Entlassenen, daß er dort sitzt. Sie wartet, seit Tagen.

Zwei entlassene Brüder wollen zunächst nicht reden. Später im Hof ihres kleinen Hauses erzählen sie unter Stocken. Man schlug sie blutig bis zur Bewußtlosigkeit, andere steckte man in Wasserfässer. Zu essen nichts außer zweimal am Tag Wassersuppe. Hebt man den Kopf, schlagen die Häscher mit Gewehrkolben zu. Entweder man zahlt oder ist ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Ihre Verwandte, eine ältere Frau, meint beim Abschied mit bebender Stimme: Sagen Sie der Welt, wir Tschetscheninnen werden unsere Kinder in dem Geiste erziehen, daß sie für uns auf ewig Rache nehmen...