Gen-Tomaten für Analphabeten

■ Eine EU-Ethikgruppe will biotechnologisch behandelte Lebensmittel nur in krassen Fällen kennzeichnen lassen / Verbraucher sollen nicht verunsichert werden

Brüssel (taz) – Eine Tomate ist eine Tomate ist eine Tomate – sagen die Ethik-Berater der Europäischen Kommission. Und sie bleibt eine Tomate, auch wenn sie mit Schweinegenen länger haltbar gemacht wurde. Dem Verbraucher müsse man solche Kleinigkeiten nicht extra mitteilen. Neun Wissenschaftler legten gestern in Brüssel ein Gutachten vor, dem zufolge biotechnologisch behandelte Lebensmittel nur dann gekennzeichnet werden sollen, wenn sie „substantiell“ verändert worden sind. Wenn die Tomate blau ist oder viereckig, dann muß es also auf der Verpackung draufstehen.

Ein Jahr lang hat die „Beratergruppe für ethische Implikationen der Biotechnologie“ über der Frage gebrütet, welche Informationspflichten der Industrie zuzumuten sind, und welche Hinweise die Verbraucher nur verwirren würden. Die Wissenschaftler der 1991 eingesetzten Ethikgruppe, die allesamt von der Europäischen Kommission ausgesucht wurden, bedauern, daß die öffentliche Diskussion von Angst und Verunsicherung geprägt sei und den Fortschritt behindere. Sie plädieren daher für eine möglichst sparsame Kennzeichnung von behandelten Lebensmitteln. Wenn die modern hergestellten Produkte äußerlich nicht von traditionellen zu unterscheiden sind, sollte man die Kunden nicht unnötig erschrecken.

EU-Industriekommissar Martin Bangemann vertritt diese Meinung schon seit langem und war von dem Gutachten stark beeindruckt. Man dürfe biotechnologisch gefertigte Nahrungsmittel nicht gegenüber den altmodischen diskriminieren, sagte er. Inzwischen seien so viele fortschrittliche Produkte auf dem Markt, daß eine generelle Kennzeichnungspflicht die Verbraucher beim Einkaufen sowieso überfordern würde.

Das Auftragsgutachten kommt wenige Wochen, bevor der EU- Ministerrat eine Richtlinie zur Kennzeichnungspflicht für Nahrungsmittel beschließen will. Bisher muß die Industrie auf dem Etikett noch nicht einmal darauf hinweisen, wenn ein Produkt komplett im Labor zusammengebastelt wurde.

Ab wann künftig eine behandelte Tomate oder ein Bergkäse als „substantiell“ verändert gelten und dementsprechend beschriftet werden müssen, das soll dann von beratenden Ausschüssen definiert werden. Über die demokratische Legitimation solcher Ausschüsse gibt es höchst unterschiedliche Auffassungen. Verbraucherverbände empfehlen einen einfacheren Weg: Auf jeder Verpackung soll „gentechnisch behandelt“ oder „enthält biotechnologisch veränderte Produkte“ vermerkt werden, wenn dies der Fall ist. Alois Berger