Auf niedrigem Podest

In Skizzen und Studien moderner als im vollendeten Tafelbild: Eine Klinger-Ausstellung in Leipzig  ■ Von Katrin Bettina Müller

Zerbrochen und gestückelt liegt das grüngetönte Gipsmodell der „Reue“ unter dem hohen Dach der Kuppelhalle des Leipziger Museums der Bildenden Künste. Die allegorische Figur, von Max Klinger für den Sockel des momumentalen Bildes „Christus im Olymp“ 1895 entworfen, birgt den Kopf in den Armen. Abgewendet von der Welt begrenzt sie ein Gruppenbild der Modelle, die dem Museum aus dem Nachlaß Klingers 1926 geschenkt wurden: Versammelt sind der Torso der „Hoffnung“, die auf die Arme gestützt den Kopf hebt, ein Fragment eines Siegfried aus dem Sockelrelief für ein Wagner-Denkmal, Wagner-Büste und die Büste von Elsa Asenijeff, die aus der ungestalteten, grob durchgekneteten Masse aufzusteigen scheint. Auch ein Gipsmodell von Klingers berühmter Femme fatale, der „Neuen Salomé“, die – ungerührt und ihrer Schönheit bewußt – unter ihrem losen Gewand die Köpfe von Johannes und Herodes verbirgt, steht auf niedrigem Podest.

Dieses Gruppenbild liefert mehr als einen Blick in Klingers Werkstatt. Die Gipse, teils aus nicht realisierten Projekten, markieren einen Zustand des Vorläufigen und sind zugleich von Spuren des Alters gezeichnet. Gegenüber dem Anspruch der ewigen Gültigkeit, denen ihnen die in vielfarbigem Marmor ausgeführten und dreifach aufgesockelten Skulpturen der „Neuen Salom“ und der „Kassandra“ in der weiten Halle entgegensetzen, zeigen sie die Anfälligkeit der Kunst gegenüber der Geschichte. Im Nebeneinander dieser Formen zerbricht das Projekt Gesamtkunstwerk in Fragmente. Damit gelingt dem Museum ein zeitgenössischer Blick auf Klinger. Neben das schillernde Werk treten die Dokumente eines lebenslangen work in progress.

Ausgepackt aus dem Dunkel der Graphikschränke wurden Studien für Details der Gemälde und Skulpturen – wie die Erprobung einer Gewandfalte zum Beethoventhron – und Skizzen zu den graphischen Zyklen. Viele der Blätter wirken in ihren andeutenden Umrissen, in der Leichtigkeit und im Tempo stilistisch moderner als die durchgearbeiteten Fassungen der Zyklen, die bis in jeden Winkel von Dämonie durchdrungen sind. Das Thema eines von Tod und Eros beherrschten Lebens umkreiste Klinger auch schon in den Zeichnungen aus dem sogenannten „Skizzenbuch“ von 1874/77, mit dessen Erwerb 1994 die Klinger-Sammlung des Museums begann. Gründlicher läßt sich die Illusion von der Entscheidungsfreiheit des Subjekt kaum verabschieden als in dem Blatt „Vom Meere ausgeworfen“. Die Absolutheit, mit der eine Frauengestalt den Elementen ausgeliefert ist, läßt die Frage nach ihrer Geschichte zurücktreten. Nur der Tod triumphiert: Er hievt sich in der Zeichnung „Der Tod in der Gebirgseinöde“ mit seiner Sense aus einer Felsspalte auf ein einsames Hochplateau, wie der einzige Gewinner eines mühsamen Kampfes.

Unter den Gemälden stellt das Museum die teilweise frisch restaurierten Wandbildentwürfe vor, die Klinger 1896 für das Leipziger Museums am Augustusplatz plante. Den vier Tageszeiten gewidmet, überraschen sie durch die breitpinselige Malweise, die eher an die Schwelle zwischen Impressionismus und Expressionismus erinnert denn an Klingers überhöhten Realismus. Ihr symbolischer Ballast, der an Stoffe der antiken christlichen Mythologie gebunden war, wird allerdings aus den Titel erahnbar.

Max Klinger in Leipzig — ein sicheres Heimspiel für das Museum, das eine lange Geschichte der Erwerbungen mit dem Künstler aus ihrer Stadt verbindet. Sie wird inklusive der verpaßten Chancen in dem informativen Bestandskatalog der Bildwerke, Gemälde und Zeichnungen dargestellt, der dagegen auf Interpretationen Klingers verzichtet. Berichtet wird auch die Geschichte des Beethoven- Throns, der heute als Leihgabe des Museums im Gewandhaus steht. 1902 für 250.000 Mark erworben, gehörte er zu den teuersten Ankäufen des Museums. Nach der Zerstörung des alten Museumsgebäudes am Augustusplatz im Zweiten Weltkrieg wurde die Sammlung bildender Kunst in einem ehemaligen Gerichtsgebäude untergebracht, aus dem sie jetzt wieder ausziehen soll. Deshalb verbindet Direktor Herwig Guratzsch mit der Klinger-Ausstellung eine Option auf die Zukunft: Er hofft, in ein eigenes, neues Haus Klingers Beethoven zurückzuholen und in das architektonische Konzept einbeziehen zu können.

Max-Klinger-Ausstellung im Museum der Bildenden Künste Leipzig bis 23. Juli 1995