■ Deserteure des 2. Weltkriegs werden weiter kriminalisiert
: Geiselnahme 50 Jahre danach

Bereits zum dritten Mal wird im Bonner Parlament versucht, den Deserteuren der Wehrmacht, die wie keine zweite widerständische Gruppe unter der Terrorjustiz der Nazizeit zu leiden hatten, eine späte Würde zuzuerkennen. Die immer noch Vorbestraften sollen endlich entkriminalisiert und ohne entwürdigende Einzelfallprüfung entschädigt werden.

Doch in FDP und CDU/CSU fanden und finden sich bislang immer genug VolksvertreterInnen, die die Anträge von Sozialdemokraten und Grünen (1990, 1993) zum Scheitern bringen. Und das, obwohl die Rechtsprechung des Volksgerichtshofs bereits 1985 vom Bundestag als nichtig erklärt worden ist und das Bundessozialgericht 1991 den Gesetzgeber aufgefordert hat, die Urteile der NS-Militärjustiz ebenfalls offiziell zu Unrecht zu erklären.

Die rechten Liberalen und der nationale Flügel der Christdemokraten argumentieren zynisch wie eh und je. Ihre Filbinger-Logik: Deserteure dürften nicht generell entkriminalisiert werden, weil dann die eifrig bei der Stange gebliebenen Wehrmachtssoldaten quasi als Kriminelle dastehen würden. Deserteure, so konstruieren sich die Christliberalen die Geschichte dolchstoßmäßig zurecht, hätten ihre „Kameraden“ im Stich gelassen und sie unter Umständen durch ihre Flucht auch in Lebensgefahr gebracht. Solche Leute dürften nicht in den Rang von Widerstandskämpfern gehoben werden. Und außerdem habe die Militärjustiz, so tönen die Gnadenlosen, auch „rechtsstaatliche“ Urteile gefällt und könne deshalb nicht vollständig verdammt werden.

Weil spätestens heute, im Jahre 1995, die Legendenspinner von der „sauberen Wehrmacht“ endgültig kapitulieren müßten, nehmen sie sich die letzten etwa 250 überlebenden Opfer der NS-Miltärjustiz als Geiseln. Sie, die sich dem verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg verweigerten, bleiben als „Feiglinge“ zur Diffamierung frei. Und sie bleiben versorgungsrechtlich schlechtergestellt als Angehörige der Waffen-SS. Ringt der Bundestag sich nicht zur längst überfälligen vollständigen Rehabilitierung durch, werden die meisten von ihnen sterben, ehe sie eine Entschädigung erhalten. Denn von den etwa zwei Dutzend Anträgen auf Entschädigung, die die Opfer der Militärjustiz jährlich stellen, werden höchstens zwei bis drei positiv beschieden.

Ganz anders dagegen die Dimensionen des Justizterrors: Gegen Kriegsdienstverweigerer, „Wehrkraftzersetzer“ und Deserteure verhängte die NS-Militärgerichtsbarkeit 30.000 Todesurteile – achtmal soviel Todesurteile wie der Volksgerichtshof und doppelt so viele wie alle anderen Gerichte und Sondergerichte zusammen. Mehr als 15.000 dieser Todesurteile wurden vollstreckt.

Am Samstag wurde in Erfurt am Ort einer NS-Hinrichtungsstätte das umstrittene „Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur“ vorgestellt. Gegen ein solches Denkmal polemisierte höchstpersönlich und ewiggestrig auch Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU): Es sei „eine Herabwürdigung derer, die tapfer in den Weltkriegen ihre Pflicht erfüllten“. Der Schriftsteller Ralph Giordano hingegen erklärte bei der Vorstellung des Denkmals: „Es gab nicht zwei Hitler, einen für Auschwitz und einen für die Truppe.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Hans-Hermann Kotte