Jacques Chiracs Lebenstraum hat sich erfüllt

■ Der neue französische Präsident wird kaum alles halten können, was er versprach

„Die Franzosen mögen Sie nicht“, hat Bernadette Chirac, die ihren Gatten siezt und ihn immer dann begleiten darf, wenn Wahlkampf ist und Kameras dabei sind, im Mai 1988 zu Jacques gesagt. Damals hatte der Chef der neogaullistischen RPR gerade seine zweite Niederlage im Kampf um den Elysee-Palast eingesteckt und war dazu verdonnert, weiterhin Bürgermeister von Paris zu bleiben. Gestern, beim dritten Anlauf, hat sich der Lebenstraum des 62jährigen Konservativen verwirklicht: Die Franzosen machten ihn zu ihrem mächtigsten Mann.

Als Nachfolger von François Mitterrand hat er nun sieben Jahre Zeit, die von ihm angekündigte Wende zu verwirklichen. Sollte er halten, was er versprach, muß Chirac unter anderem die Korruption abschaffen, leerstehenden Wohnraum beschlagnahmen, die Verwaltung entbürokratisieren, die Privatinitiative anspornen, die Arbeitslosigkeit und die direkten Steuern senken, ein neuerliches Referendum über die Europäische Union abhalten, die Atomtests am Mururoa-Atoll wieder aufnehmen und die „illegale Immigration“ reduzieren. Daß er das alles tut, steht nicht zu befürchten. Das garantiert vor allem das breit gefächerte und in sich höchst widersprüchliche konservative Spektrum, das seine Kandidatur unterstützt hat.

Der gebürtige Pariser hat die Eliteschule ENA absolviert und seine politische Karriere als Berater von Präsident Georges Pompidou begonnen. Seit 1967 sitzt er ununterbrochen im Parlament. 1971 wurde er Minister (nacheinander für Parlamentsfragen, Landwirtschaft und Innenpolitik) und 1974 machte ihn Valéry Giscard d'Estaing erstmals zum Regierungschef. Der Konkurrenzkampf mit seinem Gönner mündete 1976 in der Gründung der Partei RPR. 1986, bei der ersten sozialistisch- konservativen Kohabitation, hatte Chirac sein zweites Gastspiel als Premier. Aus jener Zeit datieren Steuersenkungen für Großverdiener, sein Verständnis für Franzosen, die nicht mit „schlecht riechenden“ Immigranten zusammen wohnen wollen und ein bis heute nicht ganz aufgeklärtes Massaker in Neukaledonien, bei dem mehrere Gendarme und Unabhängigkeitskämpfer ums Leben kamen.

Chiracs politische Heimat ist der Gaullismus – ein weites Feld, das ihn keinesfalls berechenbar macht. Unter dem Banner des Gaullismus war Chirac mal gegen, mal für die europäische Integration. Und unter demselben Banner vertrat der neue französische Präsident einst den Wirtschaftsliberalismus der britischen Konservativen und plädiert heute für eine aktive Beschäftigungspolitik und den sozialen Ausgleich durch den Staat. Dorothea Hahn, Paris