Filme in der Zahncremetube

Für „Time“ fotografierte David Scherman GIs, die in Hitlers Bett „Mein Kampf“ lasen  ■ Aus New York Ute Thon

Über Berchtesgaden lodern Flammen, es ist der 4. Mai 1945. Der Berghof brennt. Die Royal Air Force hat Hitlers Alpendomizil in Schutt und Asche gelegt. US-Soldaten der 3. Division stochern in den schwelenden Ruinen herum. Zwei Fotografen knipsen sich gegenseitig vor der flackernden Kulisse.

In Rosenheim requirieren US- Truppen das Schulgebäude, alliierte Kriegsreporter richten sich in einem der Klassenräume ein. Eilig schreiben sie ihre Berichte, da streckt ein GI den Kopf in die Tür: „Hey, guys, der Krieg ist aus!“ Die Reporter schauen sich ungläubig an. Einer spricht aus, was alle denken: „Verdammt, worüber soll ich jetzt berichten?“

Das war David Scherman, mit 28 Jahren der jüngste Fotoreporter des New Yorker Life-Magazins.

Fast auf den Tag genau 50 Jahre später sitzt er im Wohnzimmer seines Hauses in Stony Point, zwei Autostunden nördlich von New York, und erinnert sich. „Das Kriegsende hat uns Journalisten völlig den Wind aus den Segeln genommen. Jahrelang hatten wir uns in Gefahr begeben, gefeiert und getanzt – und das sollte nun auf einmal alles vorbei sein!“

Schermans Erkennungszeichen ist noch immer eine große Brille, inzwischen mit oval geformten Gläsern. Sein Kopf wurde mit den Jahren kahl, ein weißgrauer Bart verdeckt das kantige Kinn. 78 Jahre alt ist David Scherman heute, zuweilen springt seine Stimme um eine Oktave höher. Als hätte er Stimmbruch.

Im Rosenheimer Schulhaus brach am 8. Mai 1945 also kein Jubel aus. Es hieß Abschied nehmen vom Vagabundenleben in Europa, von den Kollegen Robert Capa, Percy Knauth oder Margaret Bourke-White, mit denen man in Hotelhallen und Armyzelten gehaust hatte. Dreimal kehrte David Scherman nach Kriegsende noch nach Deutschland zurück: für eine große Reportage über „displaced persons“, eine Fotogeschichte über den Alltag eines GIs in Süddeutschland und zur Dokumentation der ersten Nürnberger Prozesse. Doch es war nicht mehr dasselbe wie im Krieg.

„Ein Paar von uns hingen noch eine Weile in Deutschland rum und machten Fotos vom besiegten Volk. Doch ich sprang noch am Tag der Kapitulation in unseren Jeep und fuhr zurück nach Paris.“ Sein nächster Auftrag: Foto und Interview mit Colette. Es wurde das letzte Foto von der großen französischen Schriftstellerin, die wenig später im Alter von 72 Jahren starb. Erschienen ist es in der gleichen Life-Ausgabe, in der auch Schermans Fotos aus dem zerstörten München gedruckt wurden. „C'est la vie“, kommentiert Scherman.

„Wir lebten von einem Moment zum nächsten. An einem Tag fotografierten wir Hitlers Haus in München, am nächsten Colette und dann verschleppte Kinder in Deutschland.“ Wenn er von „wir“ spricht, dann meint er Lee Miller und sich. Die bekannte Vogue-Fotografin und -Autorin war seine Gefährtin und Geliebte während der Kriegsberichterstatterjahre.

Anfang Mai 1945, noch vor der Kapitulation und noch bevor sie sich gegenseitig vor dem brennenden Berghof fotografiert hatten, waren sie zusammen im damals schon besiegten München gewesen. Dort entstand auch jenes berühmte Foto mit Lee Miller in Hitlers Badewanne. David Scherman hatte es geschossen. „Wir trafen einen alten Mann, den wir mit einem Päckchen Zigaretten dazu überredeten, uns herumzufahren. Er brachte uns ins zerbomte Hofbräuhaus, zum Bürgerbräukeller, wo Hitler 1923 seinen ersten Putschversuch ausrief. Dann führte er uns zu Hitlers Haus, Prinzregentenplatz 27. Es war unversehrt, und so zogen wir ein. Ein paar GIs wohnten bereits dort. Einen davon habe ich fotografiert, wie er sich auf Hitlers Bett ausstreckt und ,Mein Kampf‘ liest – ein ganz bekanntes Foto, mit dem der Soldat berühmt wurde und das später für Hunderte von Dollars an einen texanischen Sammler verkauft wurde.“ Danach zog das Kriegsreporter-Pärchen in Eva Brauns Haus. Derweil saßen Adolf Hitler und Eva Braun im Berliner Führerbunker und bereiteten ihren Selbstmord vor.

„Auch wenn das komisch klingen mag“, sagt David Scherman, „wir hatten damals eine Menge Spaß.“ Humor war neben Zynismus wohl die einzige Möglichkeit, mit den grausamen Bildern des Naziterrors fertig zu werden. Nur ein paar Tage vor dem Badespaß in Hitlers Wanne war David Scherman Augenzeuge der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau gewesen, er hatte die Leichenberge gesehen, die bis aufs Skelett abgemagerten Gefangenen, die Verbrennungsöfen, die Folterkammern.

Sein Kollege Sidney Olson beschrieb diesen Tag im Time-Magazin so: „Wir gingen von einer Baracke zur nächsten. Viele Männer waren so sterbenskrank vom Hunger und von den Schlägen, daß sie kaum stehen konnten. Sie waren zu schwach, um mehr zu tun, als uns mit glasigen Augen anzulächeln. Die ganze Zeit hielten die Jubelschreie an, und wir wurden von Hunderten von Männern mit der Kraft, die nur halb Wahnsinnige aufbringen können, bedrängt und wieder und wieder geküßt – Menschen, die infernalisch stanken.“

Angesichts solcher Bilder hielt sich das Mitgefühl für das besiegte deutsche Volk in seinen zerbombten Städten in Grenzen. „Ich hatte null Mitleid mit den Deutschen“, sagt David Scherman. „Es hat mich nicht interessiert, wie schlecht es ihnen ging.“ Haß ist aus jenem momentanen Gefühl jedoch nie geworden. Schon ein paar Jahre später traf sich David Scherman mit dem Deutschen Ulrich Mohr in New York. Der ehemalige Marinesoldat aus Hamburg war inzwischen Fotograf geworden. Er arbeitete für die Illustrierte Quick. Ein Treffen unter Kollegen sozusagen. Der amerikanische Jude und der deutsche Oberleutnant sind danach Freunde geworden. Sie sprechen heute regelmäßig miteinander – und das, obwohl ihre erste Begegnung David Scherman beinahe das Leben gekostet hätte.

Im April 1941 befand sich Scherman an Bord des ägyptischen Schiffes Zamzam auf dem Weg nach Afrika. Der junge Life-Fotograf – Scherman war damals gerade mal 24 Jahre alt – sollte sich in Kairo der britischen Armee anschließen und über deren Kampf gegen Rommel in Nordafrika berichten. Doch die Zamzam erreichte ihr Ziel nie. Am zehnten Tag nach ihrem Auslaufen aus Brasilien wurde sie vom deutschen Zerstörer Atlantis beschossen. Als ägyptisches Schiff gehörte die Zamzam zum Feind. Schließlich unterstand Ägypten der britischen Krone, und Großbritannien befand sich bereits im Krieg. Dabei war die Zamzam ein ziviles Schiff mit überaus friedlichen Menschen an Bord, nämlich 140 amerikanischen Missionaren, die in Afrika ihre von den Briten internierten deutschen Missionsbrüder ersetzen sollten, und zwei amerikanischen Reportern. Dennoch versenkte der deutsche Zerstörer die Zamzam, allerdings erst nachdem er Besatzung und Passagiere in die Rettungsboote verfrachtet und gefangengenommen hatte.

An Bord der Atlantis lernte David Scherman Ulrich Mohr kennen: „Oberleutnant Mohr war für die Gefangenen zuständig. Er sprach hervorragend Englisch, hatte wohl ein paar Jahre in Amerika studiert. An meiner Ausrüstung erkannte er sofort, daß ich Fotograf war, und er ernannte mich kurzerhand zum offiziellen Fotografen der Aktion. Er zeigte mir sogar die besten Plätze, um die sinkende Zamzam aufzunehmen. Er war keineswegs der typische häßliche Nazi, wie überhaupt die deutsche Marine keine typische Naziorganisation war. An Bord der Atlantis dienten vor allem Kinder reicher Hamburger und Kieler, die in Friedenszeiten wahrscheinlich auf ihren Privatyachten segelten und nur zur Marine gegangen waren, um den Armeedienst und die russische Front zu vermeiden. Natürlich waren auch sie Killer – die Atlantis hatte zu dem Zeitpunkt schon über 20 britische Schiffe versenkt. Doch ihre Arbeit war viel sauberer als beispielsweise die in einem Konzentrationslager.“

So wurden die Zamzam-Passagiere zu deutschen Kriegsgefangenen. Zusammengepfercht auf einem klapprigen Schiff und ohne anständige Verpflegung verbrachte Scherman gemeinsam mit 200 Männern, Frauen und Kindern 30 Tage auf hoher See. Die Briten, die inständig hofften, auch die USA würden durch diesen Zwischenfall nun endlich in den Krieg eintreten, beeilten sich denn auch, die Zamzam-Passagiere für vermißt und damit für tot zu erklären.

Acht Monate vor Pearl Harbor hätte das tatsächlich beinahe Amerikas Kriegseintritt bedeutet. „Doch die Deutschen waren clever“, erinnert sich David Scherman. „Sie vermeldeten sofort, daß wir uns wohlbehalten und als Gäste im französischen Biarritz befänden. Von wegen ,Gäste‘: Wir waren dort interniert und standen unter 24stündiger Bewachung.“ Trotzdem gelang es dem jungen Fotografen, ein paar seiner Filmrollen im Gepäck eines Diplomaten nach New York zu schmuggeln.

Die Bilder, die er die ganze Zeit in einer Zahncreme- und Rasiercremetube herumgetragen hatte, sorgten für die größten Scoops der Life-Geschichte. Ihre Veröffentlichung schockte die Amerikaner und ließ die britischen Generäle jubeln, besonders ein Foto, das die Atlantis zeigte. Denn der deutsche Zerstörer war nicht nur wegen seiner Schlagkraft berüchtigt, sondern auch für seine perfekte Tarnung. Er segelte unter verschiedenen Namen und Flaggen. Schermans heimlich aufgenommenes Foto war das erste Bild von dem tödlichen Kriegsschiff. Die britische Marine orderte deshalb gleich 100 Ausgaben der Life-Ausgabe und verteilte sie an ihre Flottenbesatzung. Tatsächlich konnte die Atlantis dann acht Monate später mit Hilfe des Fotos identifiziert und zerstört werden. Zu dieser Zeit war David Scherman nach einer Irrfahrt über Spanien und Lissabon längst wieder wohlbehalten nach New York zurückgekehrt.

Nach dem Krieg hat David Scherman seine Kamera nie mehr angefaßt. Er wurde Life-Redakteur und betreute später die Buchreihe „Best of Life“. An den Wänden seines Hauses in Stony Point sucht man heute vergebens nach Abzügen seiner Kriegsbilder. „Die wirklich bewegenden Bilder haben andere gemacht, Robert Capa, Lee Miller, Ralph Morse“, sagt er. Doch auf ein Foto ist er noch immer stolz: seine heimliche Aufnahme des deutschen Kriegsschiffes.

„Damit habe ich die Atlantis versenkt, nicht übel für einen 24jährigen Life-Fotografen, oder?“ Diese Geschichte hat ihn nie mehr ganz losgelassen. Erst kürzlich hat er ein Buch über seine Erlebnisse auf der Zamzam geschrieben. Das wartet allerdings immer noch auf seine Veröffentlichung. „Ich habe es drei großen amerikanischen Verlagen geschickt. Alle haben dankend abgelehnt. Begründung: Es interessiert heute niemanden mehr, was vor über fünfzig Jahren im Südatlantik passiert ist.“