Tausche 8. Mai gegen 9. November

Eine Exegese der deutschen Gedenktage und ihrer politischen Instrumentalisierung  ■ Von Peter Reichel

Die Suche nach ihrer politischen Identität und einem angemessenen symbolischen Ausdruck dafür ist der alten Bundesrepublik von Anfang an nicht leichtgefallen. Die Auseinandersetzung um die nationalen Farben und Töne hatte allerdings nicht die Sprengkraft vergangener Weimarer Tage. Politische Feier- und Gedenktage sind bis heute ein Problem. In ihnen waren die Westdeutschen immer wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, ob sie wollten oder nicht. Und sie wollten ja oft nicht.

Die Republik mußte sich unter einer Vielzahl von ebenso bedeutsamen wie belasteten Geschichtsdaten und Gedenktagen zurechtfinden und sich ein Feiertagsgewand schneidern, das der Bevölkerung ein möglichst attraktives Identifikationsangebot machte, auf historische Kontinuität sah, doch zugleich auf kritische Distanz achtete und auf Prioritäten nicht verzichtete.

Dem neuen, verfassungspatriotisch definierten Staatsverständnis hätte als nationaler Feiertag der 23. Mai entsprochen, der Tag, an dem das Grundgesetz in Kraft trat. Er blieb blaß und unpopulär. Der bezahlte Feier-„Tag der Deutschen Einheit“ zur Erinnerung an den gescheiterten Ostberliner Arbeiteraufstand war in der Wohlstands- und Freizeitgesellschaft kaum mehr als ein sozialer Besitzstand der Arbeitnehmer und wurde, je länger man ihn zelebrierte, zu einer „öffentlichen Kalamität“ (Lutz Niethammer). Und der Volkstrauertag – seit 1969 mit dem Totensonntag vereint – konnte auch kein national erhebendes Kalenderereignis werden.

Nach dem noch sehr gegenwärtigen Feiertagskult des NS-Staats und angesichts einer ungewissen Zukunft erschien die Einführung eines Staatsfeiertages anfangs entbehrlich, jedenfalls nicht vordringlich. Die Bundesregierung mußte sich aber bereits im Sommer 1950 mit dieser Frage befassen, weil die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus am 10. September 1950 plante. Bundesinnenminister Gustav Heinemann machte dem Kabinett den Vorschlag, ein mehrfaches Gedenken am ersten Sonntag im September zu bündeln und die Erinnerung an die Kriegsopfer mit der Verfassungsfeier und dem Gedenktag für die deutsche Einheit zu verbinden. Der Vorschlag fand keinen Beifall. Aus ihrer Verlegenheit, einen passenden Staatsfeiertag zu finden, half der Regierung in Bonn dann der Arbeiteraufstand in Ostdeutschland und Ost-Berlin heraus.

Damit war das Problem staatlicher Gedenk- und Feiertage aber noch keineswegs gelöst. Schwierigkeiten bereiten immer wieder Gedenktage zur Erinnerung an die jüngste Geschichte. Mit Ausnahme vielleicht des 20. Juli erfüllen sie die Bürger nicht mit Stolz, machen sie eher ratlos und verdrießlich. Die Bilanz ist auch für notorische Frohnaturen niederschmetternd. Wir haben keinen Anlaß zu fröhlichen politischen Festen. Nach dem Verlauf unserer jüngeren Geschichte gibt es kaum etwas zu feiern: Die revolutionären Umwälzungen zur Demokratie scheiterten, die beiden Weltkriege gingen von Deutschland aus, brachten Verwüstungen über den Kontinent und schrieben in das Menschheitsgedächtnis mit dem industriell organisierten Völkermord ein neuartiges, schwer verständliches Ereignis, das den Glauben an die Zivilisation nachhaltig erschüttert hat.

Wir haben – trotz wiederholten Versuches – unsere Freiheit nicht selbst erkämpft, die erste Republik gegen ihre inneren Feinde nicht bewahren können und die zweite von den Alliierten zum – geteilten – Geschenk bekommen. Während sie im Westen Deutschlands als Wohlstandsdemokratie reüssierte, verkam sie im Osten – „Volksdemokratie“ genannt – schnell zum antifaschistisch verklärten Muster ohne Wert, weil die Befreier als Besatzer keine bürgerliche Demokratie wollten, sondern einen kommunistischen Einparteienstaat.

Im Verzicht auf den 9. November als neuen nationalen Feiertag kann man vielleicht auch ein Eingeständnis dessen sehen, daß die ständig zitierte „friedliche Revolution“ auf den Straßen Berlins und Leipzigs allenfalls eine halbe war. Die andere Hälfte hat im Kreml stattgefunden.

Der französische Historiker Joseph Rovan, gebürtiger Münchener, Dachau-Häftling und Resistance-Mitglied, veröffentlichte vor einigen Jahren einen Essay zum Thema der Befreiung von Gewaltherrschaft. Er ist in der verqueren Stasi-Debatte viel zuwenig beachtet worden. Das Ende einer Tyrannei müsse, so Rovan, „kurz und blutig sein – blutig, weil mit den Mitteln des Rechtsstaates das Erbe an Haß, Wut, Entrüstung und Verachtung nicht bewältigt werden kann, das die Tyrannei materiell und psychisch hinterläßt“. Der Tyrannenmord, die physische Liquidierung einer verbrecherischen Führungsgruppe erleichtere im übrigen den unvermeidlichen Übergang zur Amnestie, zumal nach einer langen Zeit der Gewaltherrschaft, die zwangsläufig eine unübersehbar große Zahl von Bürgern kompromittiert und kriminalisiert. Einen solchen selbstbefreienden Terror hat es zuletzt bei uns nicht gegeben. Weder 1989 noch 1945. Wenn die verhaßten und verbrecherischen Führer zu Tode kamen, dann weil sie sich selbst töteten, weil sie entkamen oder weil sie durch die Siegertribunale zum Tode verurteilt wurden.

Gerade in der jüngsten Zeit haben drei NS-Gedenktage einen herausragenden Platz eingenommen: das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945, das gescheiterte Attentat auf Hitler durch Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 und die sogenannte Reichskristallnacht am 9. November – ein Datum, das mehrere einschneidende historische Ereignisse der deutschen Geschichte fixiert: den Beginn der Novemberrevolution 1918, Hitlers gescheiterten Münchener Putschversuch 1923, der die Gegenrevolution auslösen sollte, der Novemberpogrom 1938 und schließlich die Maueröffnung im November 1989. Wegen dieses vierfachen Bezuges ist für einen Augenblick öffentlich erwogen worden, den 9. November zum zentralen nationalen Gedenk- und Feiertag des vereinigten Deutschland zu machen. Aber nicht die Querdenker setzten sich durch. Die Bedenkenträger behielten die Oberhand und verspielten damit die seltene Chance, an einem nationalen Feier- und Gedenktag Jahr für Jahr die historischen Bewegungen und Gegenbewegungen, die Brüche und Widersprüche der jüngeren deutschen Geschichte aufeinander zu beziehen statt sie gegeneinander auszuspielen.

Von allen NS-Gedenktagen hat der 20. Juli die wahrscheinlich kontinuierlichste Beachtung in beiden deutschen Staaten gefunden. Das Erbe des Widerstands konnte und wollte man nicht ausschlagen. Die jahrzehntelange systempolitische Konfrontation hat die tatsächlich vielgestaltige wiewohl quantitativ kleine Widerstandsbewegung auf die jeweils überragend bedeutsamen Akteure und Aktivitäten reduziert. Die DDR-Führung, die nicht nur, aber doch zahlreich aus der kommunistischen Arbeiterbewegung kam, den Nationalsozialismus im KZ überlebt und gegen ihn im Untergrund und im Exil gekämpft hatte, machte die sozialistisch-revolutionäre Tradition des antifaschistischen Widerstands zum historischen Bezugspunkt ihres Systems.

Aber auch die Bundesrepublik konnte auf einen einseitigen, teils idealisierenden, teils ignoranten Umgang mit dem Widerstand nicht verzichten. So wichtig für die DDR der antifaschistische Gründungsmythos wurde, so unentbehrlich erschien die Nobilitierung der Männer des 20. Juli für die Gründungsidee der Bundesrepublik. Zunächst war die Erinnerung an das Stauffenberg-Attentat im Land der Mittäter und Mitläufer allerdings unpopulär. Sie konnte ihre politische Wirkung erst entfalten, nachdem jene amnestiert und integriert waren. Ausgeblendet blieb in der Hoch-Zeit des antikommunistischen und antitotalitären Zeitgeistes jedoch nicht nur der kommunistische Widerstand, sondern auch jenes delikate Faktum, daß der nationalkonservative Widerstand zwar schließlich den Sturz des Hitler-Regimes wollte und vorbereitete, aber doch zuvor maßgeblich an dessen Errichtung beteiligt war.

Im geteilten Deutschland gab es also zweierlei Widerstand, genauer: zweierlei Sichtweisen und Bewertungen. Im vergangenen Sommer konnte man allerdings den Eindruck gewinnen, daß die innerdeutsche Teilung nach der Vereinigung fortbesteht. Abermals versuchte ein Stauffenberg- Sohn, die Dokumentation des kommunistischen Widerstands aus der Berliner Widerstands-Gedenkstätte entfernen zu lassen – diesmal aussichtsreich unterstützt vom neuen Hausherrn im Bendler- Block, dem Bundesverteidigungsminister.

Gelänge es, die Widerstandsgeschichte in ihrer öffentlichen Vermittlung auseinanderzudividieren, in eine böse totalitäre und in eine gute antitotalitäre, und den kommunistischen Widerstand auszugrenzen, die dritte deutsche Republik wiederholte bloß mit umgekehrtem politischem Vorzeichen, was das verachtete Ulbricht-Regime jahrelang betrieb: die Männer des 20. Juli als „reaktionäre Putschisten“ zu diffamieren.

Auch der 8. Mai war im gespaltenen deutschen Gedächtnis lange ein geteilter Gedenktag. „Freudenfest“ im Osten, Erinnerung an den „Tag der tiefsten Erniedrigung“ im Westen. Ein widersprüchliches, mehrdeutiges Datum ist es für uns Deutsche geblieben. Man ist ihm lange, zumal im Westen, lieber aus dem Weg gegangen, hat gar versucht, es politisch zu neutralisieren.

Am 8. Mai 1949 nahm der Parlamentarische Rat das Grundgesetz an, das dann am 23. Mai verkündet wurde. In den ersten Maitagen des Jahres 1955 wurde das Besatzungsstatut aufgehoben, wurde die Bundesrepublik weitgehend souverän und zugleich in die westliche Verteidigungsgemeinschaft aufgenommen. Das brachte Jahrzehnte später manchen Politiker und Feiertagsplaner auf die Idee, den 40. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation als 30. Jahrestag des westdeutschen Nato-Beitritts zu feiern. Noch nach vierzig Jahren bestand die Schwierigkeit im Umgang mit dem 8. Mai darin, anzuerkennen, wie Eugen Kogon schrieb, daß „Niederlage und Freiheit eine Einheit bilden“.

Ein unbefriedigender Taufspruch für einen Teilstaat. Wer läßt sich schon gern sagen, die Einheit verspielt zu haben und nach einem Kraftakt der Erneuerung nicht über jeden Zweifel erhaben zu sein. Die Feiern zum 40. Jahrestag sollten denn auch, wenn schon keine Verabschiedung von der Geschichte, dann doch eine neue Verständigung über sie bringen, die Niederlage in einen Sieg verwandeln und die einstige Anklage im Vollzug der Aussöhnung vergessen machen. Doch schon die Vorbereitungen zum großangelegten deutsch-amerikanischen Versöhnungsfestival über den Gräbern in Bitburg und Bergen-Belsen mißlangen gründlich, in Bonn wie in Washington. Die Sprecher der ungleichen Toten verhinderten den Versuch, aus jenen eine große Opfergemeinschaft und ein überpolitisches Gedenken an Krieg und Gewaltherrschaft zu stiften. Der 9. November 1938 ist lange das unbekannteste Datum in der Geschichte der deutschen Gedenktage nach 1945 gewesen. Gewiß, es gab hier und da Briefe und Reden von Bundespräsidenten und Bundeskanzlern, Grundsteine für neue Synagogen wurden gelegt und Gedenktafeln enthüllt, es gab Bußgottesdienste und Schweigemärsche, aber auffällige Spuren in der deutschen Erinnerungskultur entstanden nicht. Erst an ihrem 50. Jahrestag wurde aus der Reichspogromnacht so etwas wie ein deutscher Gedenktag, gerade wegen aller Streitigkeiten, die ihm vorausgingen und folgten. Erstmals fand die Gedenkfeier im Deutschen Bundestag statt. Sie endete mit einem Eklat und führte zum Rücktritt von Bundestagspräsident Philipp Jenninger, der die Rede gehalten hatte.

Wieder einmal waren die Bundesrepublik und die jüngste deutsche Geschichte wochenlang kontroverser Gesprächsstoff der nationalen und internationalen Medien. Jenninger stürzte, weil er zur öffentlichen Wahrheitsfindung über die NS-Vergangenheit beitragen wollte, weil er ein Tabu verletzte, indem er das, was auch noch 1995 weithin als unerklärbar-einzigartig ausgegeben wird (und dadurch als quasi katastrophisches Verhängnis auch leichter entschuldbar ist), zu erklären versuchte – nicht zuletzt unter Verweis auf das „Faszinosum“ und den „Triumphzug Hitlers“, von dem schon Thomas Mann gesprochen hatte.

Jenninger wählte nicht einfach die Perspektive der jüdischen Opfer, die uns weder zusteht noch zugänglich ist. Jenninger machte sich also die Wahrnehmung der damaligen „Volksgemeinschaft“ zu eigen, die der Täter und Mitläufer. Teile des Parlaments und der Öffentlichkeit hatten es dadurch leicht, in die Rolle des Anti-Nazis zu schlüpfen. Der Bundestagspräsident wurde mit Schimpf und Schande aus dem Amt gedrängt, weil er für eine ganzheitliche Perspektive plädiert hatte. Und weil er an die wirklich beunruhigenden Zusammenhänge, den eigentlich kränkenden Kern rührte, daß Hitler bis in die letzten Kriegsjahre in allen Bevölkerungsgruppen eine breite, sei es gläubige, sei es angepaßte „Gefolgschaft“ besaß, daß weiterhin die Deutschen als Täter, Helfer und Zuschauer massenhaft an der Ausgrenzung, Verfolgung und physischen Vernichtung der Juden beteiligt waren und daß der Holocaust zwar das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte ist, aber keine Black box, auch kein Zivilisationsbruch, sondern eine Zivilisationsfolge war, mithin ein durchaus erklärbares Ereignis.

Doch nur wenige im eigenen Lande versagten sich alle Häme und Herablassung, distanzierten sich von der landesweiten Hetzjagd, an der sich auch und gerade linke und liberale Wortführer beteiligten. Distanz war in jenen Tagen offenbar besonders vonnöten und von außen eher möglich als im eigenen Haus. „Die Wahrheit ist, daß Jenninger die Wahrheit gesagt hat“, schrieb eine israelische Zeitung, und der Korrespondent der Londoner Times überschrieb seinen Kommentar ebenso bündig: „Denounced – for the truth“. Aber da war aus dem vermeintlichen Eklat längst ein politischer Skandal geworden. So erwies sich der Fall Jenninger als ein besonderer Fall deutscher Gedenkfeierlichkeiten. Nicht als einer jener vielen trostlosen oder peinlichen, über die Eva Demski gespottet hatte, sie seien „fast immer eine feierliche Erinnerung an eine Panne, eine bramarbasierend zugedröhnte und zugelogene Erinnerung an etwas, das danebengegangen ist“. Diesmal ging die Gedenkfeier daneben, weil einer redete, der nicht log oder heuchelte und in seiner Aufrichtigkeit auch noch ungeschickt war, nur mit Mühe seine Rede zu Ende brachte, während Abgeordnete unter Protest den Saal verließen, Grüne und Sozialdemokraten voran.

Christoph Bertram hat das Fazit dieses Streitfalls auf den Begriff gebracht, denn er formulierte zugleich die Alternativen für die öffentliche Erinnerung an die NS- Zeit: „Der Dorn im Fleisch der Deutschen, die mit ihrer Geschichte leben müssen, wurde nicht herausgezogen, sondern tiefer hineingetrieben. Wie denn kann der Vergangenheit besser gedacht werden: mit Buchsbäumen, Bachchor und Betroffenheit – oder mit Aufwühlen, Aufregung und ungelenker Ehrlichkeit?“

Oder, um ein geläufiges Nietzsche-Zitat politisch umzuformulieren: Nur das bleibt im Gedächtnis, was beunruhigt, umstritten ist und immer wieder anstößig wird. Das geschieht auf Dauer nicht ohne weiteres, erfordert wohl auch institutionelle Unterstützung und noch mehr. Für die generationenübergreifend andauernde Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Erbe und der NS-Vergangenheit sind Gedenktage und Gedächtnisorte deshalb noch keine hinreichende Bedingung. Eine notwendige sind sie gewiß.

In stark erweiterter Form erscheint dieser Text in dem neuen Buch des Verfassers: „Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die NS-Vergangenheit“, das im Carl Hanser Verlag herauskommt (August 1995).