Ruhe, oder es knallt

■ Über die Eröffnung der Neuen Synagoge wachte ein Kommando von Präzisionsschützen Einziges Vorkommnis: Ein Transparent gegen Abschiebung, das den Festakt nicht störte

Das ist kein beliebiger Nachmittag in der Oranienburger Straße: Während sich Touristen ihre Schuhe auf dem Freigelände hinter dem Tacheles einstauben, andere auf dem Flohmarkt nebenan auf der Suche nach dem Sinn des Sonntags sind, liegen Dutzende von Scharfschützen auf den Dächern rund um die Neue Synagoge, die am Abend als „Centrum Judaicum“, eingeweiht wird. Die schwarzen Gestalten des Präzisionsschützenkommandos, von denen lediglich die Nasenspitzen aus der Kampfmontur herausschauen, sind nur von den Dächern der besetzten Häuser in der Augustund Tucholskystraße aus zu sehen. BewohnerInnen, die gegen das Verbot, die Dächer zu betreten und laute Musik zu machen, verstoßen, werden mit der Androhung, ihre Häuser zu stürmen, in ihre Schranken gewiesen.

Um fünf Uhr beginnt der Einlaß in das Museum der Jüdischen Gemeinde, das seit gestern für jedermann zugänglich ist. Je näher der offizielle Beginn rückt, um so länger wird die Schlange der Geladenen. Einige Dutzend Schaulustige verfolgen, wie SPD-Vize Wolfgang Thierse und Berlins ehemalige Justizsenatorin und jetzige Verfassungsrichterin Jutta Limbach an den Wartenden vorbeispazieren, während sich Berlins ehemaliger Bürgermeister Walter Momper geduldig anstellt. Nach Vorzeigen von Einladung und Ausweis wird jeder mit einem Detektor durchsucht, Fotografen müssen ihre Kameras in Einzelteile zerlegen.

Ein 77jähriger Jude aus Vilna, der seit vierzig Jahren in Berlin lebt, schüttelt traurig den Kopf über die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen. Seit dem frühen Nachmittag steht er hinter den Absperrgittern. „Vielleicht treffe ich ja jemanden“, sagt der Schwerbehinderte, dessen fünf Geschwister und Eltern vergast wurden. „Jeder Mensch auf dieser Welt hat das Recht zu leben“, sagt er mit schwacher Stimme, bevor er die Kontrolle über sich ergehen läßt. Bereits Tage vor dem Festakt hat die Polizei die „lieben Mitbürger“ per Flugblätter aufgefordert, verdächtige Personen und das Auffinden von Gepäckstücken oder Kartons, die Waffen, Munition oder Sprengstoff enthalten könnten, unverzüglich zu melden.

Gegen 19.30 Uhr sind im Hof der Synagoge Trillerpfeifen zu hören, an der Rückseite eines besetzten Hauses wird ein Transparent entrollt. „Kohl, Herzog und KomplizInnen heucheln, meucheln. Bleiberecht für alle“ steht kaum lesbar darauf. Der Festakt wird dadurch in keiner Weise gestört. Kurze Zeit später erscheinen zwei Polizisten im „Zosch“ in der Tucholskystraße und verschaffen sich über den Notausgang einen Weg zu dem verschlossenen Haus. Sie holen das Transparent mit den „ehrenrührigen Worten“ ein und beschlagnahmen ein zweites.

Man habe die Anwesenheit der Politiker nutzen wollen, um gegen die „Schizophrenie“ von Betroffenheit und dem Bau von Abschiebeknästen zu demonstrieren, sagt Hausbesetzer Fred (Name geändert). Das Bettlaken „Ruhe, oder es knallt“ sollte der Polizei jedoch gar nicht in die Hände fallen. Es sei von der 1.Mai-Demo im letzten Jahr von der KPD/RZ übriggeblieben und habe mit dem Festakt nichts zu tun. Fünf Polizisten verbringen den Rest des Abends auf dem Dachboden. Pressevertretern und Fotografen wird mit den Worten „Die Scharfschützen flammen Sie ab“ der Zugang zum Dach verweigert. Barbara Bollwahn

Siehe auch Bericht Seite 4