Werkstattlesungen, Preisverleihungen etc.
: Dominanz des Handwerklichen

■ Katja Lange-Müller und Ingo Schulze erhielten die Alfred-Döblin-Preise 1995

Ihre Universitätslektion haben die jungen SchriftstellerInnen gelernt. Weil die Subjekte fragmentiert sind, müssen die Darstellungsformen multiple sein. Also schnüren die Autoren, sich ihrer Verantwortung als letzte Gesamtsubjekte wohl bewußt, willig die unterschiedlichsten Splitter zu dickleibigen Romanpaketen – der Erzähler als herkulischer Paketpacker. Im Buch nennt er sich dann Herausgeber, der Roman wird zur „historisch-kritischen Gesamtausgabe“ eines Nachlasses, vier Textsorten sind garantiert, Anmerkungen gibt's gratis, und eine Rahmenhandlung liefert den Bratenfond.

Solch beträchtlichen konstruktiven Aufwand zeigten gleich drei der zwölf Prosatexte, die vergangenen Freitag und Samstag auf den Werkstattlesungen zum Alfred-Döblin-Preis vorgestellt wurden. Anders als Matthias Politicky mit seiner historisch-kritischen Ausgabe einer höchst naturalistischen Teenagergeschichte bewies Detlef Opitz Stilbewußtsein. Ob seine perfekte Mimikry hochmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Chroniken allerdings mehr als den Respekt vor der sprachlichen Virtuosität verdient, war nach der dreißigminütigen Lesung nicht zu beurteilen. Ganz anders Raoul Schrott, wie Opitz Anfang Dreißig. Mit einer Stimme, deren rauh und breit rollender Dünungston die ohnehin erhebliche Suggestivität des geschilderten Erinnerungsstromes noch steigerte, las der Lyriker aus seinem ersten Roman. Schrott fingiert einen Nachlaß, in dem unter anderem Reiseberichte, Briefe sowie eine Chronik aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert um Entdeckungen der Terra incognita kreisen – eine Reflexion über das radikal Neue und den Tod mit Hilfe von geographischen Metaphern –, und hier erhielt der Nachlaß als Verfahren seine Würde zurück.

Schrotts Auftritt war der Höhepunkt der zweitägigen Lesungen im „Literarischen Colloqium“ am Berliner Wannsee. Katja Lange-Müller wurde der mit 23.000 Mark verbundene Preis, den Günter Grass 1978 aus den Tantiemen seines „Butt“ gestiftet hatte, schon Donnerstag abend in der Berlinisch-Brandenburgischen Akademie für ihre bisher längste Erzählung, „Verfrühte Tierliebe“, übergeben; sie schildert in vier Stationen den allmählichen sozialen Ausschluß einer DDR-Bürgerin. Die 10.000 Mark des Förderpreises erhielt der 1964 in Dresden geborene Ingo Schulze für sein erstes Buch, „33 Versuche über das Glück“. Die 33 Beobachtungen aus Rußland, wo Schulze 1992/93 mit seinen in der Nachwendezeit erworbenen verlegerischen Erfahrungen eine Zeitung gründete, sind unangestrengt pointierte Kurzprosa.

Unter den AutorInnen, die die Juroren Brigtte Burmeister, F.C. Delius und Helmut Böttiger zu den Werkstattlesungen eingeladen hatten, war Manfred Flügge der einzige Vertreter des Dokumentarromans. Die in sie gesetzten Erwartungen erfüllten Judith Kuckart, Klaus Schlesinger und Burkhard Spinnen, in dessen erstem Roman der Held auf chaplineske Weise mit der Dingwelt hadert. Dagegen enttäuschten neben Politicky Christian Grote, Felicitas Hoppe, Uta-Maria Heim sowie Alban Nikolai Herbst. Dessen mehr als tausendseitiges Romanprojekt wollte Spinnen, sonst durchaus nicht verlegen um fundierte Diskussionsbeiträge, als „Ilias“ verstanden wissen, deren „Versmaß wir noch nicht kennen“. Doch die übrigen Zuhörer ließen sich nicht täuschen: Der prätentiös archaisierende Gestus und die dekorative Ausstattung vermochten die Trivialität von Figuren und Handlung nicht zu verdecken.

Zu solcher Polarisierung kam es selten. Freundlich, ja ein wenig müde verliefen die Diskussionen, an denen sich vor allem Herbst, Spinnen, Politicky und Uwe Wittstock (S. Fischer Verlag) beteiligten. Dieser „Realismusfraktion“ fehlte der Widerpart, und so herrschte der handwerkliche Blick auf die Stimmigkeit der Sprachbilder, die Plausibilität der Geschichte und der Erzählperspektive vor. Nach Lilian Faschingers Lesung etwa wurde gefragt, ob der Erzähler, ein Pfarrer, fähig sei, die an Thomas Bernhard erinnernde Logorrhöe der siebenfachen Mörderin Wort für Wort zu rekapitulieren – schließlich sei er für diese Beichte aus der Kirche entführt, gefesselt und obendrein mit einem schwarzen Body geknebelt worden. Und, fragte das Leserweibchen, das auch in Schriftstellerinnen und Schriftstellern steckt, was sei denn der Grund für die sieben Morde? „Einen Grund gibt es immer“, sprach es da mit tiefer Stimme aus der Preisträgerin. Das ist die Antwort der Literatur auf das Leben. Jörg Plath