Intakt gehaltene Hippie-Sinnlichkeit

Ende der Siebziger hatten sie sich aufgelöst, seit 1990 tourten sie wieder durch Europa und die USA: Nach 24 Jahren Pause sind Faust, die legendären Krachkapitäne des Krautrock, nun auch auf deutsche Bühnen zurückgekehrt  ■ Von Johannes Waechter

Verwirrung: Wenn an der Front eines Theaters für „Faust“ geworben wird, kommt man nicht automatisch darauf, daß damit eine Band gemeint ist. Vielleicht haben viele potentielle Zuschauer vermutet, daß Goethes Schauspiel gegeben würde, vielleicht war die Promotion schlecht, vielleicht ist die Zeit immer noch nicht reif für Faust. Auf jeden Fall ist die Berliner Volksbühne ziemlich leer, als die sagenumwobene Siebziger- Avantgarde-Band am Sonntag abend auf die Bühne tritt.

Nur den wenigsten Anwesenden wird bewußt gewesen sein, was für einen historischen Vorlauf dieses Konzert hat: Das Faust-Spektakel in der Volksbühne ist „nach einem langjährigen Trauma das erste Mal, daß wir wieder richtig groß in Deutschland spielen“, wie Jean- Hervé Peron, faustischer Bassist und Vorschlaghammer, sagt. Jener Auftritt, der sie so nachhaltig traumatisierte, fand im Jahr 1971 statt – erstes Indiz dafür, daß bei Faust die Uhren anders gehen.

Ende der Siebziger hatten sie sich aufgelöst, seit 1990 gibt es sie wieder, jedoch nicht in Deutschland. Das Comeback gelang Faust mit einem Konzert im Marquee in London, an das sich Shows in Norwegen, Belgien, Frankreich und anderen europäischen Ländern sowie eine sechswöchige USA-Tour anschlossen. Auch frische Live- CDs haben sie veröffentlicht, stehen pünktlich zum Krautrock-Revival wieder in vollem Saft, so scheint es. Doch halt! „Krautrock ist für uns alle ein sehr häßliches Wort, das hat mit uns nichts zu tun“, wehrt Schlagwerker Werner Diermaier diese Verbindung ab. Und hat insofern recht, als das, was Faust in der Volksbühne anstellen, definitiv kein Rock ist. Es ist eine experimentelle Musik-Performance von elektrisierender Intensität und atemberaubender Vielschichtigkeit, ein forscher und forschender Trip ins Ungewisse.

Die Bühne ist vollgestellt. Links ein imposanter Öltank, rechts ein ins Publikum gerichtetes Gebläse, dazwischen ein altes Klavier, ein Dutzend Fernseher, einige Schrottobjekte und ein breites Instrumentarium inklusive Psalter, Keyboards, Gitarre, Baß, drei Congas und zwei Schlagzeugsets. „Wir spielen die Eroberung der Stille“, sagt Diermaier, als die sechsköpfige Band (dreimal Urfaust, dreimal Verstärkung) in Position ist, und zerschlägt eine Glasscheibe. Das ohrenbetäubend laut verstärkte Splittern ist der Auftakt zu einer infernalischen Krachorgie: Diermaier schwingt seine Brechstange und zertrümmert alle Fernseher, um danach auf seine Schrottsammlung einzuprügeln, Hervon zerlegt das Klavier. Der Krach geht in einen massigen Groove über, der von Hervons heftig verzerrtem Funk-Baß vorangetrieben wird.

Auf einem Podest über diesem Spektakel thronend, liefert der Tenor Udo Klein mit seinem Belcantogesang einen spukhaften Kontrast zu diesem Exzeß. Danach überrascht Hervon mit der Ansage: „Wir werden jetzt etwas abstrakter.“ Wie das, fragt man sich unwillkürlich. Zum Sound von Diermaiers Schrottgeschabe und der Orgel des dritten Urfaust, Hans-Joachim Irmel, macht sich Hervon mit einer Motorsäge an einer von hinten beleuchteten Bretterwand zu schaffen – die Beleuchtung wird sichtbar, als er mit theatralischer Geste das Wort „Rien“ in die Wand sägt. Dies ist der einzige Moment des Konzerts, an dem Faust Prätention unterstellt werden könnte: Dieser unsubtile Flirt mit dem Nihilismus funktioniert vielleicht in Amerika oder auf derselben Bühne in einer Castorf-Inszenierung, nicht jedoch im Kontext des Faust-Konzerts.

Wenn eines auffällt, dann wie mühelos und natürlich Faust mit einer Musik begeistern, die weniger geschickten Bands leicht zu übelster Kunstkacke geraten könnte. Es ist ihre intakt gehaltene Hippie-Sinnlichkeit, die ihnen dies ermöglicht: Sie schlagen nicht auf Schrott herum, weil es ein gesellschaftliches Statement oder eine coole Idee ist, sondern weil sie den Klang von Schrott lieben – und diese Liebe hört man in jedem Ton. Faust leben und arbeiten in einem Klangbruch, aus dem sie ständig neue Brocken herauslösen. Die Eroberung der Stille ist ihnen synonym für ein möglichst vollständiges Ausschöpfen des dynamischen Spektrums, ein unendliches Facettieren und Explorieren von Klängen und Klangmaterialien, getragen von einem Verständnis von Musik als unweigerlich fließendem Ausdruck des Augenblicks.

Mit den nächsten Stufen des Konzerts robben sich Faust näher an ihr Endziel heran. Ein wunderbares Stück sieht Diermaier zu Gebimmel vom Band den Psalter streichen und mit einem Schlagzeugbecken an den soeben freigelegten Saiten des zerborstenen Flügels kratzen, während Hervon mit Hilfe der Windmaschine zahlreiche Stoffetzen, darunter auch sein eigenes Hemd, in den Zuschauerraum bläst.

Für drei abschließende Stücke gibt es Faust unplugged: Diermaier am Sparschlagzeug, bisweilen die Becken auf den Boden schleudernd, Hervon an der folkig gepickten Wandergitarre, der Rest zurückgenommen. Das letzte Stück beginnt mit den programmatischen Worten „Listen to the fish“ und endet mit einem fast zehnminütigen Orgelakkord, der die Band bewegungslos und mit gesenkten Köpfen verharren läßt. Dann Abgang.

Die Stille ist erobert, das Publikum auch. Als das Licht angeht, steht in vielen Gesichtern die Frage, wo um Himmels willen man gerade gewesen war. Im Foyer wird dann die Frage diskutiert, wie so alte Männer noch so weit draußen sein können.