Der Wiederaufbau hat schon begonnen

In den eroberten westslawonischen Orten machen sich kroatische Polizisten und Soldaten an Aufräumarbeiten / Der kroatische Ministerpräsident sichert geflohenen Serben die Rückkehr zu  ■ Aus Westslawonien Beate Seel

Das Mahnmal von Jasenovac steht noch. Es erinnert an die rund 80.000 Menschen, die in den Jahren 1941 bis 1945 unter dem kroatischen Ustascha-Regime in einem Konzentrationslager in dieser westslawonischen Ortschaft ermordet wurden. Wie die sich öffnenden Blätter einer Tulpe ragt die Skulptur bei der Anfahrt durch die grüne Save-Ebene weithin sichtbar gen Himmel. Die Bahngleise, über die die Gefangenen in den Tod transportiert wurden, sind noch erhalten; ein verrosteter Zug aus der damaligen Zeit erinnert an die Maschinerie der Vernichtung. Entgegen der serbischen Propaganda wurde die Gedenkstätte nicht zerstört, als die kroatischen Truppen am Montag vergangener Woche den Ort eroberten.

Heute liegt Jasenovac verlassen da. Praktisch alle der ein- bis zweistöckigen Häuser wurden im Krieg 1991/92 beschädigt. Die ehemals von Kroaten bewohnten Häuser wurden von den serbischen Eroberern in die Luft gejagt, während die der Serben noch erhalten sind. Die katholische Kirche liegt in Trümmern, das christlich-orthodoxe Gotteshaus dagegen wurde nicht angetastet. Die wenigen Menschen, die sich in Jasenovac aufhalten, sind kroatische Polizisten und Soldaten – und Reparaturtrupps. Mitarbeiter der Telefongesellschaft verlegen neue Leitungen, die von den Serben gekappt worden waren. Auch die Stromleitungen sollen wieder ans kroatische Netz angeschlossen und das Postamt geöffnet werden. Der Ort wartet auf die Rückkehr seiner Bewohner. Einer von ihnen ist Vasko Jaroslaw, ein Kroate, der bis zu seiner Flucht vor den serbischen Kämpfern 28 Jahre lang für die Stromversorgung des Ortes zuständig war. Er und zwei weitere Männer sitzen auf Stühlen vor der zerschossenen Fassade eines zweistöckigen Gebäudes, an dem bereits ein neues Schild der kroatischen Verwaltung prangt. Die drei warten auf den Bürgermeister, ebenfalls ein kroatischer Flüchtling. Wo die serbischen Bewohner geblieben sind, ist nicht eindeutig festzustellen. Ein Teil sei wohl freiwillig gegangen, ein anderer Teil mit Bussen evakuiert worden, mutmaßt Jaroslaw. Nach Angaben eines UN-Mitarbeiters im nahegelegenen Städtchen Novska wurde die Bevölkerung nach Kutina und Nova Gradiska evakuiert, um bei der Eroberung des Dorfes unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Sie könnten zurückkehren, sobald die Lage vor Ort sicher sei.

Nach dem Einrücken in Jasenovac haben die Soldaten zunächst planmäßig die Häuser nach Waffen und Minen durchsucht, ehe sie sich an die Aufräumarbeiten machten. Von den Blutlachen, die nach Angaben des serbischen Radiosenders die Straßen bedecken, ist nichts zu bemerken. Die Kämpfe waren kurz: Der Angriff begann morgens um 7.30 Uhr, mittags waren die Soldaten im Ort.

Wenige Kilometer von Jasenovac entfernt, an der Waffenstillstandslinie im UN-Sektor West, montieren jordanische UN-Blauhelmsoldaten gerade ihren Kontrollposten ab. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sitzen zwei kroatische Soldaten neben einem mit Sandsäcken geschützten Unterstand und schauen zu, wie die Jordanier einen Tank auf die Ladefläche eines Lasters hieven. Auf die Frage, ob die UN-Soldaten ihnen geholfen hätten, entgegnet einer: „Helfen? Wir wagen es noch nicht einmal, ihnen den Rücken zuzudrehen.“ Als die UN-Soldaten abfahren, winkt er ihnen nach. Tschüs, UNO, soll das das wohl heißen, wir haben den Job hier alleine erledigt.

Die Waffenstillstandslinie im UN-Sektor West, die die kroatischen Soldaten Anfang letzter Woche überrannten, führte auch durch den Ort Pakrac, der etwa 25 Kilometer weiter nordöstlich liegt. Pakrac muß einmal ein sehr schönes Städtchen gewesen sein – vor dem Krieg von 1991/1992. Im Zentrum säumen zweistöckige, zum Teil mit Stuck verzierte Gebäude die Straßen. Es gibt kein Haus, keine einzige Fassade, die nicht etwas abbekommen hätte. In den Randbezirken des von den Kroaten gehaltenen Teils sind teilweise ganze Straßenzüge völlig zerstört. Dem Turm der katholischen Kirche fehlt die Spitze.

In der Café-Bar „Scorpia“ entspannen sich die kroatischen Soldaten bei Bier und Schnaps. Major Veliko Barberi, ein bekannter kroatischer Schriftsteller, der sich freiwillig zur Armee gemeldet hat, hat seit vier Tagen kein Auge mehr zugetan. Er war es, dem sich die Führung der Serben am Donnerstag nachmittag ergeben hat. In der Nacht zum Freitag wurden dann 1.700 Zivilisten evakuiert; die gefangengenommenen Männer wurden ins Sportzentrum der kroatischen Stadt Bjelovar gebracht. Frauen und Kinder, die nicht geflohen sind, konnten im Ort bleiben, wenn sie wollten. „Ich verstehe die Situation hier als Modell für das Vorgehen der kroatischen Armee“, sagt Barberi. Im Unterschied zu 1991/92 steht den serbischen Freischärlern jetzt eine organisierte Armee gegenüber, die planmäßig vorgegangen ist und offensichtlich den Befehl hatte, die Bevölkerung zu schonen. Das modellhafte Vorgehen, von dem Barberi spricht, wird auch von einem UN-Mitarbeiter im Café bestätigt, der namentlich nicht genannt werden möchte. Es habe bei den Hausdurchsuchungen keine Plünderungen gegeben, sagt er.

Im Stadtteil Gavrinica, der bislang von den Serben gehalten und jetzt von den Kroaten erobert wurde, lehnen Gruppen serbischer Frauen an den Gartenzäunen und beobachten die Ankunft des kroatischen Ministerpräsidenten Nicola Valentić, der im Hof vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung eine Pressekonferenz abhält. „Die kroatische Regierung garantiert allen serbischen Bewohnern hier, daß sie bleiben können, wenn sie die kroatischen Gesetze befolgen“, sagt Valentić. Dies entspricht nicht den Befürchtungen von Frau Sarcenić, einer Serbin, die im Ort geblieben ist und auch bleiben durfte, obwohl im Hof ihres Hauses ein Gewehr gefunden wurde.

Frau Sarcenić hat mit dem Schlimmsten gerechnet. Ihre Mutter sei als junges Mädchen ins Konzentrationslager von Jasenovac gebracht worden, Onkel und Cousin einer Nachbarin wurden von den kroatischen Ustascha, die mit Nazi-Deutschland kollaborierten, ermordet. „Ich dachte gestern, sie würden unsere Männer vor unseren Augen erschießen. Vielleicht hätten sie das tun sollen, dann wären wir jetzt erlöst“, meint sie.

Seit die kroatischen Soldaten in das Dorf eingerückt sind, ist die kleine Welt von Frau Sarcenić aus den Fugen geraten. Ungeachtet der Vertreibung der kroatischen Bewohner im Jahre 1991 sieht sie sich als Opfer der Ereignisse. Zu beklagen sind durchwühlte Zimmer, zwei tote Hühner, elf angeblich durch die Gefechte taub gewordene Schweine und der zerissene Paß des Ehemanns. Der Blick reicht nicht über den eigenen Gartenzaun hinaus.

Frau Sarcenić und die Nachbarin machen „die Politiker“ und „die Mächtigen“ für die Situation verantwortlich, in der sie sich jetzt befinden. „Weder alle Kroaten noch alle Serben gleichen sich“, fügt die Nachbarin hinzu. „In jedem Weizen gibt es auch Spreu.“ Bei der Sorge um ihren gefangengenommenen Mann vergißt sie diese differenzierte Sicht allerdings gleich wieder. „In irgendeiner Form werden sie ihm schon einen Mord anhängen, alle hier hatten ein Gewehr. Es ist klar, daß die Kroaten gegen die Serben sind und ihn anklagen werden.“

Im Gegensatz zu Pakrac liegt der ebenfalls von Kroaten eroberte Ort Okučani verlassen da. Fast alle Häuser im Zentrum wurden bei den Kämpfen von 1991 schwer in Mitleidenschaft gezogen. Dort, wo einst die katholische neben der orthodoxen Kirche stand, legten die Serben einen Marktplatz an, dessen Stände zerstört wurden, als in der letzten Woche ein kroatisches 130-mm-Geschoß einschlug. In der gegenüberliegenden Ladenzeile gingen alle Fensterscheiben zu Bruch. Die Regale der Geschäfte sind leer, auf den Tischen einer Kneipe stehen halbvolle Flaschen mit Wein und Schnaps, auf dem Boden liegen Scherben. Hier haben möglicherweise die kroatischen Soldaten zugeschlagen.

Auch in Okučani sind die Kroaten dabei, die Zivilverwaltung wieder aufzubauen. Der lokale Radiosender ist seit Donnerstag, einen Tag nach der Eroberung, wieder in Betrieb, an der Tankstelle fegen Mitarbeiter der kroatischen Ölgesellschat INA den Boden und putzen die Fenster. Milan Iranetić, ein Tierarzt, organisiert den Abtransport der frei herumlaufenden Haustiere, damit sie versorgt werden, bis die Bewohner zurückkehren. Etwa 50 Serben seien geblieben, sagt er. Zu sehen ist jedoch niemand. Neben den Soldaten sind die Hühner, Schweine, Ziegen und Hunde die einzigen Lebewesen in diesem Geisterort, der alle Anzeichen einer überstürzten Flucht trägt. Auf den Tischen in den Gärten und in den Häusern stehen noch die Essensreste.

Vor dem Krieg lebten in dieser 14.000-Seelen-Gemeinde 4.500 Kroaten und 9.000 Serben. Einer der wenigen Kroaten, die während der vierjährigen Besatzung ausgeharrt haben, ist der mit einer serbischen Lehrerin verheiratete ehemalige Fotograf des Ortes. Beiden wurde verwehrt, weiterzuarbeiten; während der ganzen Zeit hat der Mann sein Haus nur zweimal verlassen. 1993 wurde ein Versuch, ihn umzubringen, von bewaffneten serbischen Nachbarn verhindert, die ihn schützten.

Der Kroate glaubt, daß es wieder möglich sein wird, so zusammenzuleben wie vor dem Krieg. Wenn es eine geheime Umfrage gebe, meint er, seien 95 Prozent der hier lebenden Serben gegen die Extremisten, die alles angerichtet hätten. Diese seien von außen gekommen, angestachelt von der serbischen Regierung in Belgrad. „Fische müssen vom Kopf aus gereinigt werden“, sagt er.