Demonstration gegen Kriegsverbrecher

■ In Ochtendung protestierten MigrantInnen gegen verjährtes Verbrechen

Ochtendung (taz) – Am Anfang sieht es ganz so aus, als stünde eine Straßenschlacht bevor – in Ochtendung, dem 4.500-Seelen-Ort bei Koblenz. Alle Ortseingänge von der Polizei versperrt, auf dem Kirchplatz dann eine Gruppe von etwa 100 Antifa-Aktivisten und MigrantInnen aus Frankfurt, Bremen und dem Rhein-Mosel-Umkreis. Davor, jenseits der Straße, noch einmal so viele BürgerInnen der Gemeinde. Was die Ortsfremden wollen, haben sie auf Plakate geschrieben: „Kein Verjähren, kein Vergeben, kein Vergessen.“

In Ochtendung lebt seit mehr als vierzig Jahren ein Kriegsverbrecher: Wolfgang Lehnigk-Emden hat 1943 als 20jähriger Leutnant in Caiazzo bei Neapel 22 Zivilisten, Bäuerinnen und Bauern und ihre Kinder, massakriert. Später arbeitete er als Architekt im Ort, war SPD-Gemeinderat und Präsident der Karnevalsgesellschaft. Vor zwei Monaten ist sein Fall endgültig zu den Akten gelegt worden. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe bestätigte, was schon das Oberlandesgericht in Koblenz geurteilt hatte: Schrecklich die Morde von Caiazzo, aber leider verjährt.

Von den DemonstrantInnen müssen sich die Ochtendunger einiges anhören: Sie hätten, so ein Redebeitrag aus dem Frankfurter MigrantInnen-Café „Morgenland“, gezeigt, daß sie „nichts mehr schätzen, als in Ruhe und stiller Eintracht mit einem Massenmörder zu leben“.

Tatsächlich berichteten die Medien noch vor wenigen Wochen über ein verstocktes Dorf: Fernsehteams wurden verjagt, „wir wollen unsere Ruhe haben“, hieß es. Lehnigk-Emdens Sohn sprach abschätzig von den „Itakern“, die einfach „zu emotional“ seien. Jetzt, an diesem heißen Sonntag, dem Vortag des 8. Mai, ist anscheinend ein anderes Ochtendung auf den Beinen: „Ich finde es blamabel, daß der Bürgermeister heute nicht hier ist“, sagt eine 32jährige Frau, die mit ihrer kleinen Tochter als eine der wenigen Ortsansässigen unter den Demonstrierenden steht. Schrecklich sei dieses Urteil von Koblenz und seine Bestätigung in Karlsruhe. Sie selbst sei drogenabhängig gewesen und habe gesessen, „nur weil ich mich selbst kaputt gemacht habe. Unsere Gefängnisse sind voll von kranken Menschen. Und einen Massenmörder läßt man laufen.“

Dem Demonstrationszug zu Lehnigk-Emdens Haus schließen sich immer mehr Ochtendunger an. „Ich kenne Lehnigk-Emden“, sagt eine Frau. „Beim Einkauf, auf der Bank: Er tritt immer noch auf, als gehöre ihm der Ort. Weil er so gar keine Demut zeigt, keine Reue, deswegen gehe ich jetzt mit der Demonstration.“ Betroffenes Schweigen, als der Italiener Vittorio vor den dicht geschlossenen Rolläden von Lehnigk-Emdens Wohnhaus mit Tränen in den Augen die Namen der 22 Opfer verliest und erzählt, wie sie starben.

Es gab im Ort keine Resolution, keine Erklärung des Gemeinderats zum Fall Lehnigk-Emden. Die Demonstration scheint zumindest einen Teil der Einwohner aus ihrer Hilflosigkeit zu erlösen. „Was hätten wir denn tun sollen?“ fragt einer. „Lehnigk-Emden vertreiben, ihn aufhängen?“ An den Richtern wäre es gewesen, den Massenmörder zu verurteilen. Sie haben ihn verschont. Das macht es den Leuten, die jahrzehntelang mit ihm lebten, wohl nicht leichter zu richten. Andrea Dernbach