■ Der 8. Mai ist vorbei – das Gedenken nicht
: Gründe zu stolpern

Befreiung hin, Niederlage her, die Aufarbeitungs- und Bewältigungsschlacht ist geschlagen. Ist dem so? Ist das Gedenken jetzt abgehakt, bis zum Überdruß gesättigt, die Vergangenheit im Kasten, Schwamm drüber, und wer bis jetzt noch nicht von Auschwitz, den Internierungslagern im Osten oder von der Flucht über die Ostsee erzählt hat, ist selber schuld? Nein, dem ist nicht so.

Denn jenseits von allen Symposien, repräsentativen Gedenkzeremonien, diplomatischen Pflichtveranstaltungen und vor allem jenseits aller politischen Vereinnahmungsversuche von rechts (Befreiung, nein danke!) und links (Nie wieder Deutschland!), war im ganzen Land etwas sehr Bemerkenswertes zu beobachten. Die Daten rund um den 8. Mai, von Konzentrationslagerterror über Wehrmachtsverbrechen bis hin zu Bombennächten und Entnazifizierung, alle diese Geschehnisse wurden der offiziellen Politik entrissen – und dies mit einer Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit, wie es niemals zuvor in den letzten 50 Jahren gewesen war. Überall, von Kiel bis Oberammergau, sprachen die Menschen in ihren Wohnzimmern und Kneipen nicht unverbindlich theoretisierend, wie nun was ein- und damit wegzuordnen sei, sondern über ihr eigenes Erleben und das, was sie vor ihrer Haustür gesehen haben oder nicht sehen wollten. Und das Erstaunliche, man hörte ihnen zu, auch wenn die Berichte nicht ins eigene Weltbild passen.

Noch vor zehn Jahren bügelten die Nachgeborenen die Berichte ihrer Eltern über Flucht und Vertreibung als politisch unkorrekt ab. Ihre Erzählungen über Vergewaltigung, Mord und Totschlag schienen einer Generation, die gerade erst entdeckt hatte, daß ihre Eltern Täter waren, peinliche Lappalien zu sein im Verhältnis zu dem, was die Deutschen der halben Welt antaten. Jede Erzählung, die nicht mit Deutschlands Schuld begann, galt als neuerlicher Beweis für Verdrängung und Relativierung. In diesen Monaten aber hörten die Enkel den Großeltern zu, und die durch Lebenserfahrung und Wissen milder gewordenen 68er kramten in Tagebüchern und Fotoalben, ohne gleich zu moralisieren.

Dieses Niveau ist nicht rückgängig zu machen, das Erinnern ist nicht zu Ende. Die Geschichte im Einzelschicksal erkennen, das Allgemeine im Konkreten wahrnehmen – die Diskussionen der letzten Monate haben gezeigt, daß dies ein Weg ist. Wer wie in Altötting in Bayern oder in Duderstadt in Niedersachsen an den repräsentativsten Plätzen der Stadt liest, daß hier Todesmärsche aus KZs vorbeizogen oder Deserteure erschossen wurden, muß stolpern. Jetzt, um den 8. Mai herum, ist ganz Deutschland zu einer Ansammlung von Stolpersteinen geworden. Das macht Hoffnung für die Zukunft. Anita Kugler