Chirac will eine größere Arbeiterklasse

Um Unruhen zu vermeiden, will Frankreichs frischer Präsident per Notprogramm vor der Sommerpause die auf Rekordhöhen angestiegene Massenarbeitslosigkeit verringern  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Die Arbeitslosigkeit?“, rief ein feiernder Jugendlicher in der Wahlnacht auf den Champs-Élysées überzeugt in eine Fernsehkamera – „die wird Chirac lösen.“ Es ist eine gigantische Aufgabe, denn es gilt, 3,3 Millionen offiziell registrierte Arbeitslosen und mindestens 2 Millionen weitere Franzosen, die ganz knapp am Existenzminimum entlangbalancieren, in normale Beschäftigungsverhältnisse zurückzuholen. Die Erwartungen an den neuen Präsidenten sind nicht minder enorm. Jacques Chirac hatte den Kampf gegen den „sozialen Graben“ in Frankreich und gegen die Massenarbeitslosigkeit in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes gestellt. Jetzt muß er in den ersten Wochen seines Mandats etwas tun.

Im Gegensatz zu früheren Usancen gab es bis in die letzten Tage des Wahlkampfes Streiks in Frankreich – vor allem im öffentlichen Dienst, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad relativ hoch ist und Privatisierungspläne die Arbeitsplatzsicherheit gefährden. Schon morgen soll es weitergehen: Die Beschäftigten der staatlichen Fluggesellschaft „Air Inter“ wollen gegen ihre Zusammenlegung mit „Air France“ protestieren; weitere Streiks bei der Post, der Telecom, der Eisenbahngesellschaft werden in den kommenden Tagen folgen. Die von zahlreichen Oppositionellen angedrohte „dritte, soziale Wahlrunde“ läßt sich energisch an.

Wenn alles nach Plan verläuft, erhält der gewählte Präsident Anfang nächster Woche die Schlüssel zum Élysée-Palast. Wiederum eine Woche später könnte bereits eine von ihm neu zu besetzende Regierung ihre Arbeit aufnehmen. Als erstes – so versicherte Chirac in seiner Rede in der Wahlnacht – steht „der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ auf dem Programm. Ein Notprogramm namens „Vertrag zur Beschäftigungsinitiative“ soll noch vor der Sommerpause dem Parlament vorgelegt werden. Es richtet sich vor allem gegen die Langzeitarbeitslosigkeit und zielt – gemäß den Versprechungen des Kandidaten Chirac – darauf ab, „nicht für die Arbeitslosigkeit zu zahlen, sondern dafür, daß die Leute arbeiten“. Unternehmen, die neue Arbeitsplätze schaffen und dafür Langzeitarbeitslose einstellen, sollen zunächst sämtliche Sozialabgaben erlassen und monatliche Prämien von 2.000 Francs (ca. 580 Mark) gezahlt werden.

„Frische Luft“ statt linke Bürokratie

„Wir haben 2,4 Millionen Arbeitgeber in Frankreich“, sagte Chirac noch bei der TV-Debatte in der vergangenen Woche, „das sind 2,4 Millionen Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu schaffen.“ Nach seiner Ansicht wurden vor allem die kleinen und mittelständischen Betriebe in den vergangenen Jahren viel zu sehr „von der sozialistischen Bürokratie“ gegängelt und gelähmt, und ihr Zugang zu Krediten sei beinahe unmöglich geworden. Chirac will nun „frische Luft“ in diese Betriebe blasen, die Lohnnebenkosten – langfristig auch die Unternehmenssteuern – senken und vor allem auf einen generellen Aufschwung setzen. Nicht vorgesehen sind Kontrollmaßnahmen, um die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu überprüfen – dies hatten Kritiker eingeklagt, die befürchten, daß Chiracs Maßnahmen vor allem eine Umverlagerung der Arbeit in den Niedriglohnbereich, aber kaum neue Beschäftigungsverhältnisse schaffen. Die Linie lautet statt dessen: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Das „Vertrauen in die Unternehmer“, so ein Chirac-Sprecher, „ist Voraussetzung für den Aufschwung“. Ferner visiert Chirac eine Aufwertung von Teilzeitarbeitsplätzen an. Er will die Zahl der Arbeitsplätze im gesamten Erziehungsbereich erhöhen und zusätzliche im Bereich der häuslichen Hilfe und Pflege schaffen. Der Mindestlohn soll noch vor dem ersten Juli erhöht werden. Eine generelle Arbeitszeitverkürzung von 39 auf 37 Wochenstunden, wie der Sozialdemokrat Lionel Jospin sie vorgeschlagen hatte, lehnt Chirac ab.

Zur Finanzierung seiner Beschäftigungsinitiativen, die im Wahlkampf auch von konservativen Politikern als „zu teuer“ bezeichnet worden waren, plant Chirac eine Anhebung der Mehrwertsteuer von derzeit 18,8 auf 20 Prozent. Daneben will er das laufende Privatisierungsprogramm fortsetzen. Von den 21 großen „privatisablen“ Staatsunternehmen sind bislang 7 verkauft, die 14 verbliebenen könnten dem Staat noch einige willkommene Milliarden Francs mehr verschaffen.