„Der Herrgott ist ein Autobus“

Zweimal Wiener Burgtheater: Werner Schwabs „Die Präsidentinnen“ und Shakespeares Schauerdrama „Titus Andronicus“  ■ Dieter Bandhauer

Die Mühlen der Burgtheaterdramaturgie mahlen offensichtlich langsam. Mitte 1988 schickte der damals noch völlig unbekannte Schriftsteller Werner Schwab sein Stück „Die Präsidentinnen“ an die Dramaturgie des Burgtheaters. Anderthalb Jahre später wurde dem Autor mitgeteilt, daß sein Stück „für unseren Spielplan nicht in Frage kommt“.

Dieser Brief wurde nun anläßlich der erstmaligen Aufführung dieses Stückes im Mai 1994 – des ersten Stückes überhaupt von Werner Schwab im Wiener Akademietheater, der zweiten Spielstätte der Burg – im Programmheft abgedruckt, ebenso wie ein Aktenvermerk der Dramaturgie, in dem es unter anderem heißt: „Durch mangelndes Sprachvermögen des Autors vieles unfreiwillig komisch. Eine surrealistische Farce, die (auch dramaturgisch) im Chaos endet. Nicht aufführbar.“

In dem dazwischen liegenden Zeitraum von sechs Jahren nahm Schwab zwar keine Veränderungen an den „Präsidentinnen“ vor, war aber mehr oder weniger über Nacht zu einem der gefragtesten und meistgespielten Autoren des deutschen Sprachraums avanciert. Doch sein Aufstieg war nicht nur steil, sondern auch kurz: in der Neujahrsnacht 1993/94 starb er bekanntlich im Alter von 36 Jahren.

Daß die Burgtheaterdramaturgie einige Monate später sein vor sechs Jahren bei ihnen angelangtes Stück auf den Spielplan setzte, läßt sich als Eingeständnis eines Irrtums und als Wiedergutmachung verstehen, aber auch schlicht als eine Anpassung an die inzwischen veränderte Marktlage. Denn Schwab zu spielen ist heute kein Wagnis mehr, sondern beschert volle Häuser.

„Die Präsidentinnen“ sind sicherlich nicht Schwabs stärkstes Stück. Die Inszenierung von Peter Wittenberg beweist aber nachdrücklich, daß es sehr wohl aufführbar ist. Weder eine in die Gedärme der menschlichen Existenz hinabsteigende Handlung irritiert das heutzutage zur Genüge aufgeklärte Publikum sonderlich, noch Schwabs Diktion, in der eben nicht das Leben genossen wird, sondern „das Leben dich genießt“. Das Skandalöse an den „Präsidentinnen“ – oder an dieser Aufführung – besteht vielleicht gerade darin, wie selbstverständlich dieses Stück im Schafspelz des Boulevardtheaters daherkommt.

Drei Frauen aus kleinstbürgerlichem Milieu sitzen am Tisch in der Wohnküche der Mindestpensionistin Erna und hecheln das Leben im allgemeinen und ihre Schicksale im speziellen durch. Während Erna (Ortrud Beginnen) mit einem erwachsenen Sohn geschlagen ist, der „akkurat keinen Verkehr aufnehmen“ will, damit endlich Enkelkinder ins Haus kommen, und eine etwas schwärmerisch-betuliche Neigung für den Fleischhauer Wottila hegt, steht ihre Freundin Grete (Hilke Ruthner) – von ihrer Tochter und zwei Ehemännern verlassen – mit beiden Beinen im Sumpf des Lebens: ihre Leidenschaft für die Männer ist allgemeiner, aber gleichzeitig fleischlich konkreter.

Das dritte Rad am Wagen dieses Komplotts des Allzumenschlichen bildet die bigotte und auf infame Art idiotische Mariedl (Ursula Höpfner), die im wahrsten Wortsinn unter diesen Banalitäten des Fleisches schwebt; all ihr Streben gilt den verstopften Aborten der besseren Gesellschaft; diese auszuräumen ist ihr „auch ohne“ Gummihandschuhe ein Bedürfnis. Immer wieder unterbricht sie den Dialog der beiden sich immer leidenschaftlicher in ihre Objekte der Begierde hineinsteigernden Freundinnen mit ihren Abortfreilegungsorgien.

Schwabs Figuren wächst ja immer die eigene Sprache über den Kopf; in den „Präsidentinnen“, Schwabs erstem Stück, sind es aber mehr noch die eigenen Geschichten, die aus ihnen herauswachsen und schlußendlich über ihnen zusammenschlagen. Denn wie ein Strafgericht kommt Mariedl über die beiden so unterschiedlich mannstollen Frauen, indem sie deren Liebesgeschichten weitererzählt und in einem grotesken Fiasko enden läßt. Doch das Wort wird Tat, wenn auch letztlich nicht blutiger Ernst: Die plötzlich umgedrehte Hierarchie zwischen den drei Randexistenzen wird von Erna und Grete mit Küchenmesser, Eimer und Fetzen wiederhergestellt.

Ein abruptes Ende, dem noch in Form einer kurzen Schlußapotheose ein Ausrufezeichen angefügt wird. Die beiden Mörderinnen singen gemeinsam mit ihrem schnell wieder auferstandenen Opfer ein Lied, das auf seine Art durchaus Sinn zu stiften versteht: „Der Herrgott ist ein Autobus“.

Ortrud Beginnen, Hilke Ruthner und Ursula Höpfner bringen mit ihrem präzisen und unaufdringlichen Spiel die notwendigen Voraussetzungen für Peter Wittenbergs raffiniertes Regiekonzept mit: nämlich das Stück zu verschärfen, indem es konsequent verharmlost wird.

***

Kommt Werner Schwab in seinem ersten Stück noch mit einem Theatermord aus, haben akribische Köpfe bei Shakespeares erstem überlieferten Stück „Titus Andronicus“ mehr als 30 Tote gezählt. Die Geschichte vom edlen Römer und Heerführer Titus spart wahrlich nicht mit Blut – und zu Mord kommen Schändung, Vergewaltigung, Verstümmelung und Kannibalismus hinzu. Wolfgang Engels Regie beschönigt nichts, verschüttet reichlich Theaterblut, ohne jedoch in die Falle eines brutalen Realismus zu tappen, der im Theater nur allzuoft unfreiwillig lächerlich gerät.

Die Aufführung im Akademietheater wird dank eines jungen und engagierten Ensembles zu einer flotten Revue, in der die politischen Machtkämpfe schlüssig in die Sprache der Theatralik übersetzt werden. Der Streit um die Thronfolge wird gleich eingangs als Streit um das Mikrophon inszeniert, in das Befehle an die Gefolgschaft hineingebrüllt werden – Krieger agieren wie Rocksänger. Die Schlachten und Gemetzel fegen als harte, körperbetonte Tanznummern über die Bühne. Und die Figuren werden so ernst genommen, wie sie es verdienen, werden also in ihrer ganzen Marionettenhaftigkeit bloßgestellt. Falsche Gefühle wie Mitleid bleiben auf der Strecke, das Machtkarussell dreht sich um die eigene Achse.

Engels Regie macht vielleicht nicht wirklich plausibel, warum dieses Shakespearesche Schauerdrama wieder einmal auf die – im Akademietheater von Horst Vogelsang meist bis zur Brandmauer ziemlich leer gelassene – Bühne gehievt werden mußte; er und seine Truppe sind aber mit soviel Nachdruck bei der Sache, daß sich diese Frage zumindest während der ohne Pause in zweieinhalb Stunden über die Bühne jagenden Performance auch gar nicht stellt.

„Die Präsidentinnen“ von Werner Schwab (Regie: Peter Wittenberg, Burgtheater Wien, 2 Std. o.P.) am 22./23. 5., 19.30 Uhr und 24. 5., 19.30 Uhr (anschließend Publikumsgespräch), Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz, Mitte. Theatergespräch am 23. 5., 12 Uhr, im Theaterzelt vor dem DT.

„Titus Andronicus“ von William Shakespeare (Regie: Wolfgang Engel, Burgtheater Wien, 2 Std. 30 Min., o.P.) am 21. 5., 19.30 Uhr und 22. 5., 19.30 Uhr (anschließend Publikumsgespräch), Schiller Theater, Bismarckstraße 110, Charlottenburg. Theatergespräch am 22. 5., 12 Uhr, im Theaterzelt vor dem DT.