Diskrepanz von Moral und Trieb

■ München: Neue Junfräulichkeit und neue Unübersichtlichkeit – Von den Kammerspielen kommt „Der Drang“ von Franz Xaver Kroetz in eigener Regie

Als sich Franz Xaver Kroetz vor einem Jahr nach langer Abwesenheit wieder auf der Bühne zurückmeldete, dachte man zuerst, er recycle lediglich ein altes Stück. Die vier Figuren aus „Der Drang“, das er selbst an den Münchner Kammerspielen inszenierte, sind bekannt. Nach zwei Jahrzehnten im Theaterorkus taucht Fritz aus dem Stück „Lieber Fritz“ wieder auf und wird nach seinem Gefängnisintermezzo von Schwester Hilde und Schwager Otto in der familiären Gärtnerei aufgenommen. Fritz ist ein sanfter Exhibitionist und abgestürzter Engel, der wenig tut und viel bewegt.

Kroetz wandelte die 17 Szenen leicht ab, pointierte sie und schrieb einen neuen zweiten Akt dazu. Eine Frage stellte sich von vornherein: Wie wirkt das heute, da sein Volkstheater von Werner Schwab postmodern durchkonjugiert worden ist? Hallen die bauernschlauen Enthüllungen und Weisheiten seiner Figuren, ihr Altmännerschweiß und ihre Hausfrauenschrillheiten heute nicht wie ein Echo aus einer anderen Zeit?

Die Antwort von Kroetz überrascht. Er blickte auf seine Anfänge zurück, als habe ein weiser alter Herr den schalkhaften Jungen in sich und so ganz nebenbei auch eine zweite Jungfräulichkeit entdeckt. Kroetz ist sich seiner Theatermittel sicherer denn je; daß er in den vier Protagonisten der Münchner Kammerspiele ein exzellentes Schauspielerquartett zur Verfügung hat, überrascht weniger.

Vor allem wenn Edgar Selge und Franziska Walser als ausgetrocknetes Gärtnerehepaar plaudernd aneinander vorbei kopulieren, führen zwei hochkarätige Darsteller vor, welch exzellente Laienschauspieler sie sein können, wenn man sie läßt.

Selge sinnt wie ein kleiner Junge dem rätselhaften Wesen „Fritz“ nach, das da in seine wohltemperiert-langweiligen Treibhäuser eingebrochen ist, und gibt schwüle Männerphantasien so unschuldig von sich, als begeistere ein zwölfjähriger Bengel sich für Mickey Mouse. Franziska Walser ist in ihren Leggins voll auf der Höhe der Zeit; eine naiv staunende und breit schwäbelnde Gärtnersgattin, die alle Attacken des Ehemannes gegen den Bruder mit einfachsten Fragen entschärft.

Fritz, durch Medikamente kaltgestellt und von der Gärtnereiangestellten Mizzi aufgeheizt, hat etwas Fremdes an sich und schwingt sich am Ende aufs Motorrad. Damit hatte es sich in „Lieber Fritz“; im neuen zweiten Akt von „Der Drang“ gibt Kroetz dem Stück eine andere Stoßrichtung. An der Oberfläche geht es natürlich auch um Aids, im Kern allerdings beschreibt er die inzwischen viel verdecktere Diskrepanz von Moral und Trieb, Leben und Phantasie, die sich seit den 70er Jahren unter der Oberfläche der angeblichen sexuellen Revolution entwickelte.

Schwager Otto greift sich seine Angestellte Mizzi, danach droht die Welt aus den Fugen zu geraten. Ehefrau Hilde könnte zur Mörderin werden, und Kroetz inszeniert immer deutlicher die Überforderung der bürgerlichen Provinzseelen, die ihr „Anything goes“ leben wollen, aber in einem neuen, langweiligeren Arrangement landen. Spaß und Tollerei des ersten Aktes verschwinden, Horst Kotterba hat eine ernüchternd einsame Szene als exhibitionistischer Fritz, der selbst seiner durch Attest beglaubigten Perversion nicht zu trauen scheint. Und Sibylle Canonica macht in immer hilfloseren Gesten deutlich, daß die Mizzi in dieser neuen Unübersichtlichkeit auf der Strecke bleiben wird. Jürgen Berger

„Der Drang“ von Franz Xaver Kroetz (Regie: Kroetz, Münchner Kammerspiele, 2 Std. 45 Min. m.P.) am 17./18. 5, 19.30 Uhr und am 19. 5., 18 Uhr (danach Publikumsgespräch), Schiller Theater, Bismarckstraße 110, Charlottenburg. Theatergespräch am 18.5., 12 Uhr, im Theaterzelt vor dem DT.