Drill, Reinlichkeit, Paranoia

Das Zürcher Theater am Neumarkt hat mit „In Sekten“ ein ambitioniertes Projekt zum Thema Sekten erarbeitet und gastiert damit beim Berliner Theatertreffen, das heute eröffnet wird  ■ Von Gerhard Mack

Hauke beginnt sich zu drehen. Er reißt sich die Kleider vom Leib, zerrt an seinem Geschlecht, fällt hin und zuckt. Die anderen haben ihm zugeschaut wie einem unartigen Kind, das seine Lektion vergessen hat. Sie stellen Stühle über ihn und beginnen zu summen, bis Hauke sich nicht mehr rührt. Er hat ein Päckchen bekommen. Ein winziges Törtchen mit einem Brief von seiner Mutter zum Geburtstag. Bevor er den Kuchen auspackt, versucht er krampfhaft, ihn loszuwerden. Aber die Hände können nicht anders. Je mehr Hauke sich die verbotene Frucht versagt, desto sicherer bewegt sich seine Hand zum Mund. Doch als eine Frau aus der Gruppe auf ihn zukommt, spuckt er alles aus und beginnt ein Strafexerzitium. Er muß sich mit schwarzer Schuhcreme ein Kainsmal ins Gesicht drücken. Unerbittlich wird er gedemütigt und zur Selbstaufgabe getrieben.

Hauke ist Mitglied einer Sekte. Das Zürcher Theater am Neumarkt hat sich nach dem Aidsstück „Angels of America“ von Tony Kushner und dem eigenen Bacchen-Projekt „Backroom“, das auf die recht große Sado-Maso-Szene in Zürich reagierte, wieder eines aktuellen Themas angenommen. Sekten haben in der Dienstleistungsmetropole allgemein Zulauf. Besonders de „Verein für psychologische Menschenführung“ sorgte in letzter Zeit für Schlagzeilen. Mitglieder hatten, so war zu lesen, ihre bevorzugte Stellung als Lehrer dazu mißbraucht, im Unterricht Schüler mit ihren dogmatischen Erlösungsmeinungen zu bedrängen. Das Zürcher Theater war neugierig auf das Thema geworden, als auch immer mehr Leute aus dem links-alternativen Spektrum Sektenmitglieder geworden waren. Volker Hesse und Stephan Müller spielen nicht die Saisonhits zwischen Klagenfurt und Flensburg nach. „Ein kleines Großstadttheater“ wolle man sein, hatte Hesse zu Beginn der ersten Spielzeit das eigene Selbstverständnis formuliert. Möglichst unverbrauchte Stücke und Stoffe sollten auf die Bühne. Im Programm des Hauses erkennen sich jetzt anscheinend viele Gruppierungen der Stadt wieder: Es ist nicht auf ihre BürgerInnen abonniert. Das kaputte, krankmachende, arme Zürich jenseits der Sihl kommt hier zum Zug.

Damit hat die Truppe einigen Erfolg. Der Stadtrat hat das kleine Haus mit seinem Etat von 3,5 Millionen Franken endlich als unverzichtbar für Zürich anerkannt und von seiner Sparliste genommen. Und das Publikum strömt. Die meisten Vorstellungen sind ausverkauft. Vom ETH-Berg kommt die akademische Jugend herunter. Frühere Liebhaber des Neumarkt aus den späten sechziger und siebziger Jahren, die heute die linksliberale intellektuelle Szene bilden, kehren zurück. Das alternative Publikum konzentriert sich nicht mehr nur auf die „Gessnerallee“ und das sommerliche Theaterspektakel. Zu den literarischen Projekten „Fritz“ und „Phaidon“, die eine eigene Linie des Theaters der kleinen Form etabliert haben, kommen viele ältere Zuschauer. Die Größe von maximal 250 Zuschauern ermöglicht eine gute Mischung aus Distanz und Intimität. Nach den Aufführungen kann man privat, auch mit Schauspielern, diskutieren. Das Foyer wird zum zweiten Erlebnisraum.

Die Durchmischung des Publikums verdankt sich auch der Dramaturgie des neuen Teams. Schauen, kennenlernen, verstehen, zeigen können sind Grundhaltungen der Arbeit. Bei „In Sekten“ etwa wurde keine besondere Sekte aufs Korn genommen. Namen fallen in den anderthalb Stunden Vorstellung nicht. Man wollte herausfinden, welche Lebenserfahrungen hinter den Klischees stecken, die Sekten und ihre Gegner aufbauen, welche Strukturen den Alltag, die Wünsche, Ängste und Handlungen in den geschlossenen Innenwelten bestimmen.

Dazu wurden Fachleute herangezogen. Vor allem aber zeichnete man stundenlang Gespräche mit Sektenmitgliedern und Aussteigern auf. Das Ensemble schrieb selber Texte. Körperliche Signale boten Material für eigene Spielerfahrungen. Die ehemalige Pina- Bausch-Protagonistin Vivienne Newport stand hilfreich zur Seite.

Aus dem Puzzle entstanden erzählbare Figuren. Muster schälten sich heraus: Die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, Verstörungen, Drill, Reinlichkeitszwang, Paranoia bilden Strukturen, die sich in die Körper einschreiben und für das Funktionieren einer Sekte wichtiger sind als die Inhalte, mit denen geworben wird. Mit dem Feind draußen in der Welt, bei den satanischen Medien etwa, den verbohrten Verwandten und Freunden, mit rigider Hierarchie und unnahbaren Führergestalten werden subtile Formen eines Gruppen-Ich etabliert.

In den unwillkürlichen Bewegungen, in „Fehlleistungen“ entdeckte das Ensemble aber auch Reste gesunden Menschenverstandes und die fürchterlichen Zerreißproben, in die Sektenmitglieder gespannt sind, wenn sie ihr altes Leben nicht ganz verdrängen können. Hauke kann seine leibliche Familie nicht vergessen. Immer wieder bricht die Sehnsucht nach ihnen durch, die die Sekte als Verrat bestraft. Jenny bemüht sich, ein gutes Mitglied zu sein. Sie will anwerben, schafft es nicht, neigt zu simplen Fehlern, etwa beim Kopieren von Flugblättern. Ein Teil ihres Wesens ist realitätstüchtig geblieben, sieht das Busineß hinter dem Glauben.

Das Ensemble nimmt die Sehnsüchte nach einem anderen Leben ernst. Den Erfahrungen von Sektenmitgliedern nähert es sich mit Demut. Hesse und Glarner haben auf jeden Dokumentarismus à la Maxie Wander verzichtet. Sachliche Präzision und Zurückhaltung bestimmen die Darstellung. Gruppendruck, Autoritätshörigkeit und Erlösungsversprechen sind in Spielformen umgesetzt.

Die ZuschauerInnen geben an der Garderobe ihre Schuhe ab. Als diese per Förderband auf den weichen Fliesboden fallen, den Marietta Eggmann und Ernst Wiener als Bühne ausgelegt haben, werden sie zu neugeworbenen Mitgliedern, die die Akteure wie Opfergaben darbringen. Gruppenbewegungen, die den Kollektivdruck in abstrakte Formen und Singsang fassen, begleiten Selbstbezichtigungen. Die einzelnen Szenen sind von einer behutsamen Dramaturgie umfangen.

Die ZuschauerInnen werden so zu Interessenten, die von witzelnden Rednern („Hinein ins Naß mit Badedas!“) geworben werden sollen. Langsam wird der Ton aggressiver. Ein älterer Herr fliegt aus dem Saal. Die Sektenmitglieder auf der Bühne werden mit passiver Aggressivität schikaniert. Sexualität ist tabu, Aids ein Druckmittel. Nur der große Guru in Korea darf wahllos vermählen. Am Ende, als alle ums Leben kommen, erzählt ein Ehemaliger, wie er, ohne jedes Bewußtsein, gegen seinen besten Freund Material sammelte, damit die Sekte ihn vernichten könne. Diese Erfahrung wird ihn, selbst wenn sie bewußt werden darf, wohl nie wieder loslassen.

„In Sekten“, Regie: Volker Hesse