Als der Marquis nicht gestört werden wollte

Vor 150 Jahren starben eine Million Iren unter britischer Herrschaft an Hunger. Das Gedenken daran im Irland von heute mischt sich mit Dritte-Welt-Solidarität und dem Wunsch nach einer britischen Entschuldigung  ■ Aus Louisburgh Ralf Sotscheck

Die große irische Hungersnot war für Gabriel Burne bisher nur eine Statistik. Erst in diesem Jahr, sagt der Schauspieler, habe er intensiver darüber nachgedacht, und plötzlich wurde ihm bewußt, daß es mehr ist als nur eine historische Tragödie. „Dieses Ereignis hat die Geschichte Irlands und der USA nachhaltig beeinflußt“, sagt Byrne. „Ich erinnerte mich auch an die Erzählungen meiner Mutter, in denen Menschen mit grünen Flecken an den Mundwinkeln vorkamen. Sie hatten vor lauter Hunger Gras gegessen.“

In seinem schwarzen Anzug, der dunklen Sonnenbrille und dem hellblauen Hemd sieht er aus, als ob er auf eine Beerdigung gehen wolle. Auf gewisse Weise trifft das auch zu: Byrne ist einer der Ehrengäste bei dem Gedenkmarsch, der am vergangenen Samstag von Louisburgh zum Doolough-See in der westirischen Grafschaft Mayo führt. Er drehe einen Dokumentarfilm über den Marsch und seine historischen Wurzeln, erzählt der Schauspieler, die Premiere sei am 20. August in den USA.

Ein anderer Ehrengast ist John Pilger, der in Großbritannien bekannte australische Enthüllungsjournalist. Sein Ururgroßvater wurde 1821 wegen einer Rebellion gegen die englische Herrschaft in Irland zu 14 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Australien deportiert. „Der Gedenkmarsch“, sagt Pilger, „schafft eine Verbindung zwischen den Ursachen für die irische Hungersnot vor 150 Jahren und ähnlichen Geschehnissen heute.

Die Menschen sind damals nicht deshalb verhungert, weil es nicht genügend Lebensmittel gab, sondern weil die englischen Imperialisten das Land geplündert haben.“ Das Wort „Imperialismus“ sei unmodern geworden, sagt Pilger, aber der Imperialismus von heute führe einen stillen Krieg. „Die Politik der Weltbank im Namen der freien Marktwirtschaft hat Vietnam eine Hungersnot beschert“, sagt Pilger. „Die Engländer haben damals ihre Plünderung Irlands damit begründet, daß man nicht den freien Handel beschränken könne. Es ist heute wie vor 150 Jahren das alte Lied.“

1849 war bereits das fünfte Jahr der Hungersnot in Irland. Am 30. März erwarteten Notleidende in Louisburgh die Ankunft von zwei britischen Regierungsbeamten, Colonel Hogrove und Captain Primrose. Deren Aufgabe war es, den Hungernden „Armutsbescheinigungen“ auszustellen, die zum Bezug von drei Pfund groben Mehls berechtigten. Aus welchem Grund die Bescheinigungen nicht ausgestellt wurden, ist nicht überliefert. Den 600 Menschen, die aus dem Umland nach Louisburgh gekommen waren, teilte man jedenfalls mit, sie sollten sich um sieben Uhr am nächsten Morgen am Delphi-Haus einfinden, der Anglerhütte des Marquis von Sligo am Doolough-See, wo sie von den Sonderbeauftragten der Regierung Hilfe bekommen würden. Ein Drittel der Gruppe mußte in Louisburgh zurückbleiben: Die Menschen waren von Hunger und Kälte schon zu geschwächt, ihr Überlebenswille war gebrochen.

Die übrigen machten sich barfuß und nur notdürftig bekleidet auf den zehn Meilen langen Marsch, gerieten unterwegs in einen Schneesturm und trafen erst am nächsten Mittag am Delphi- Haus ein. Die Regierungsbeamten waren gerade beim Dinner und wollten nicht gestört werden. Nachdem sie gespeist hatten, schickten sie die verzweifelte Gruppe weg, ohne irgendwelche Hilfe gewährt zu haben. In seinen Aufzeichnungen beschreibt James Berry aus Louisburgh, wie die bis auf die Knochen abgemagerten Menschen auf dem Rückweg am Straßenrand starben. Wie viele es waren, ist nicht bekannt. In lokalen Überlieferungen ist von Hunderten die Rede, Historiker setzen die Zahl niedriger an. Am Silver Strand im nahe gelegenen Killadoon gibt es heute noch einen kegelförmigen Grabhügel, wo man damals die Toten aufgeschichtet hatte, weil die Angehörigen zu entkräftet waren, um die Leichen zu begraben.

„Ihre Geister sind unsichtbar“, sagt Gary White Deer vom Indianervolk der Choctaw aus Oklahoma am Samstag, „aber sie laufen heute mit uns, ich kann ihre Anwesenheit fühlen.“ Gary, der Weiße Hirsch, sieht aus wie die Karikatur eines Indianers: Er ist kugelrund, trägt eine fluoreszierende rote Jacke mit lila Schärpe und einen breitkrempigen weißen Lederhut. Die Choctaw haben einen Ehrenplatz im kollektiven Gedächtnis Irlands: Als damals die Nachricht von der Hungersnot ins ferne Oklahoma drang, schickten die Choctaw, denen es selbst nur wenig besser ging, 170 Dollar – eine beträchtliche Geldsumme für damalige Zeiten – nach Irland. Heute gehöre Irland zur „ersten Welt“, sagt Gary White Deer, und die Choctaw helfen im Kampf gegen Hunger und Unterdrückung in anderen Teilen der Welt – zum Beispiel in Guatemala.

Das freundliche Gesicht, die grauen Strähnen und die buntbestickte Bluse täuschen: Juana Vasquez, eine Maya aus Guatemala, hat ihren Job als Lehrerin an den Nagel gehängt und arbeitet seit vier Jahren im sechsköpfigen Leitungsgremium der Nationalen Widerstandsbewegung der Mayas. „Insbesondere die Maya-Frauen sind von Diskriminierung betroffen“, sagt sie zur taz. „Schuld an der Not der Mayas ist der Imperialismus: Im ersten Jahrhundert der Kolonisation sind 90 Prozent der Mayas durch Hunger, Krankheit und Massaker getötet worden.“ In ihrer Rede auf der improvisierten Bühne am Ufer des Doolough-Sees spricht sie dann vom „Gleichgewicht zwischen Schöpfer, Natur und Volk“, entzündet ein paar Kerzen und bedankt sich bei „Action From Ireland“ (Afri), die den Gedenkmarsch organisiert haben, für die Einladung.

Bevor sich die rund tausend Menschen in Bewegung setzen, richtet Joe Murray vom Afri-Vorstand eine Forderung an „das britische Establishment“: Der Besuch von Prinz Charles im Juni – der erste offizielle Besuch eines Mitglieds der Königsfamilie in der Republik Irland – sei eine gute Gelegenheit für eine Entschuldigung, auf die Irland noch immer warte. „Eine Entschuldigung für 800 Jahre Kolonisation, insbesondere für den Holocaust, dessen Opfern wir heute gedenken.“

Als der Troß losmarschiert, singt Liam O'Maonlai, Sänger der Hothouse Flowers, ein gälisches Liebeslied aus dem vorigen Jahrhundert, das von den Bergen am anderen Ufer des Sees zurückschallt. „Ich kenne gar kein zeitgenössisches Lied, das von der Hungersnot handelt“, erzählt O'Maonlai später. „Es gibt sie zweifellos, aber sie sind mündlich überliefert, und bisher hat sich niemand die Mühe gemacht, sie aufzuschreiben.“ Erst in diesem Jahr, 150 Jahre nach Beginn der Hungersnot, stößt das Thema auf breites Interesse: Es gibt Dokumentarfilme und eine Mini-Fernsehserie, in die Buchhandlungen ist eine wahre Publikationsflut hereingebrochen, und in Strokestown in der Grafschaft Roscommon wurde ein Hungersnot-Museum eröffnet.

Bis dahin waren die Leute von Afri allein auf weiter Flur. Vielleicht glaubten viele, die Erinnerung an die Hungersnot könnte antibritische Ressentiments schüren und der IRA in die Hände spielen. Afri richtet den Gedenkmarsch im Doolough-Tal dagegen schon seit acht Jahren aus. 1991 nahm der südafrikanische Bischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu daran teil.

Diesmal spielen AmateurschauspielerInnen unterwegs die grauenhaften Szenen nach, die sich hier vor knapp 150 Jahren ereigneten: Zwei Frauen und ein Mann tragen eine Frauenleiche ans Ufer des Sees, auf einem Hügel sitzt eine schwarzgekleidete Frau und wiegt ihr totes Kind im Arm. Die Straße führt durch die atemberaubende Landschaft des Doolough-Tals. Die Felder sind mit Steinen und Felsbrocken übersät, dazwischen weiden ein paar Schafe, hin und wieder sind Torfsoden in langen Bahnen zum Trocknen ausgelegt. Im Tal leben nur noch wenige Menschen. Manchmal sieht man oben an den Hängen Ruinen aus grobem Stein.

Die 16 Kilometer nach Louisburgh ziehen sich scheinbar endlos hin, viele fallen weit zurück oder lassen sich von Begleitbussen ein Stückchen mitnehmen. Als nach vier Stunden endlich das Ortsschild von Louisburgh auftaucht, sagt die Journalistin Mary Russell: „Ich bin fix und fertig, aber ich hatte belegte Brote und Getränke dabei, feste Schuhe an den Füßen, und außerdem schien die Sonne. Wie müssen sich die hungernden Menschen damals gefühlt haben, als sie den Nachbar, die Freundin, den Verwandten tot am Straßenrand zurücklassen mußten.“