■ Was die Zeit von den Palästinensern fordert
: Martyrium in Leistung verwandeln

Marwan Bishara, geboren in Nazareth, lebt seit einigen Jahren als Journalist in Paris. Er ist Herausgeber von „issues“, einem politischen Monatsmagazin über den Nahen und Mittleren Osten.

taz: Herr Bishara, was sind heute, eineinhalb Jahre nach dem zwischen PLO und Israel geschlossenen Grundsatzabkommen von Oslo und fast ein Jahr nach Yassir Arafats Rückkehr nach Gaza, die größten Herausforderungen für die palästinensische Gesellschaft?

Marwan Bishara: Zuallererst ist es notwendig, den innerpalästinensischen Dialog wiederaufzunehmen. Die Ablehnung von Arafats Osloer Alleingang hat sowohl dessen Verhandlungsposition gegenüber Israel geschwächt als auch die Opposition selbst. Dieser Dialog sollte unter dem Schirm der PLO stattfinden, deren Organisationsstruktur diesem Zweck allerdings anzupaßen wäre. Die zweite Herausforderung: Das Osloer Abkommen muß transformiert werden. Es gilt, den „blueprint“ für einen palästinensischen Staat festzulegen.

Hierfür muß der politische Prozeß demokratisiert werden, innerhalb der PLO und innerhalb der palästinensischen Gebiete. Die Führung muß berechenbar werden für die verschiedenen politischen Strömungen, die sich im innerpalästinensischen Dialog kristallisieren. Es muß ferner eine Erziehungsarbeit in Angriff genommen werden, innerhalb derer für die Gemeinschaft wichtige Punkte – von Familienplanung bis zur Erziehung in Bürgerrechten und Privatbesitz – solider angegangen werden, als das bisher unter Besatzungsbedingungen geschah. Martyrium muß in Leistung verwandelt werden!

Schließlich: Entwicklung! Mehr als 20 Jahre lang haben die Palästinenser die israelische Okkupation bekämpft und dabei wenig auf die ökonomische und soziale Entwicklung gesetzt. Es ist wahr, daß Israel eine solche Entwicklung unterdrückt hat, aber auch die Palästinenser selbst tragen Verantwortung.

Das palästinensische Kapital muß aus dem Ausland zurückgeholt, andere Investoren müssen interessiert werden. Natürlich gilt es, bessere Bedingungen als bisher für Investitionen zu schaffen. Dafür ist der zu wählende palästinensische Rat ebenso verpflichtet wie dazu, daß wenigstens ein Kernbestand von Bürgerrechten gesichert ist.

Wie kann angesichts des inneren wie äußeren Drucks der Raum für einen neuen innerpalästinensischen Dialog geöffnet werden?

Im kommenden Jahr erreichen wir drei verschiedene Deadlines. Erstens das israelisch-syrische Abkommen. Zweitens die Endphase der israelisch-palästinensischen Verhandlungen. Drittens Wahlen in den USA. Mit einer israelisch- syrischen Übereinkunft unter Dach und Fach und den amerikanischen Wahlen vor der Tür wird es selbstverständlich mehr Unterstützung aus den USA für Israel geben. Für Rabin stehen dann die Chancen gut, die Wahlen in Israel zu gewinnen.

Alle drei doch sehr wahrscheinlichen Szenarien zusammengenommen, wird Arafat Mitte bzw. Ende 1996 einer starken Rabin- Regierung gegenüberstehen. Das wird es sehr schwierig machen für Arafat, besonders in der Endphase der Verhandlungen, wenn es um die Siedlungen, um Jerusalem und die Flüchtlinge geht. Durch all das wird es für Arafat notwendig, seine sozialen und politischen Wurzeln in der palästinensischen Gesellschaft zu stärken. Seine „Sicherheitskräfte“ können seine Basis in Gaza bewachen, aber sie gewährleisten nicht den notwendigen populären und politischen Rückhalt in Fatah und der PLO.

Welche Rolle spielt die Opposition in diesem Prozeß?

Die Opposition sieht sich angesichts eines wahrscheinlichen israelisch-syrischen Friedens vor dem Ende. Sie wird keine Gastgeber mehr in den arabischen Staaten finden, keine Hauptstädte mehr, in der sie sich ansiedeln könnte. Sie wird sich Rechenschaft darüber ablegen müssen, daß der Friedensprozeß unumkehrbar ist, daß das Gefühl hoher Verantwortung es verbietet, einen Bürgerkrieg unter Palästinensern in Kauf zu nehmen. All dies wird zu politisch vernünftigen Reaktionen der Opposition führen. Sie wird sich untereinander einigen, eventuell mit Arafat koalieren.

Glauben Sie, daß die Opposition mit einem neuen politischen Programm herauskommt?

Bislang opponiert sie hauptsächlich gegen Oslo. Vor allem die Kritik der PFLP und der DFLP basiert immer noch mehr auf den marxistischen Ideen als auf eigenen Programmen. Man könnte daher sagen, daß die säkulare Opposition erst einmal zur Realität finden muß. Was die islamistische Opposition angeht: Ich denke, man muß versuchen, sie stärker einzubinden. Wahlen wären ein gutes Barometer, um herauszufinden, wie stark Hamas wirklich ist. Meines Erachtens sollte sie in die PLO hereingenommen werden.

Wie kann einerseits Israels Forderungen nach Sicherheit entgegengekommen, andererseits der Versuch Israels abgewehrt werden, seine Dominanz zu wahren?

Wir wissen ja nicht mal, was genau Israels Sicherheitsinteressen sind. Es geht nicht mehr um die nationale Sicherheit Israels, sondern um individuelle Sicherheit von Israelis. Aber wie könnte jemals eine Autorität oder wie könnten jemals irgendwelche Verhandlungen die persönliche Sicherheit von Individuen garantieren? Israel ist in seiner nationalen Sicherheit heute von niemandem mehr angegriffen, nicht von den arabischen Staaten und ganz sicher nicht von den Palästinensern. Wenn aber ein Israeli einem Attentat zum Opfer fällt, werden die gesamten palästinensischen Gebiete abgeriegelt.

Selbst wenn – hypothetisch gesprochen – Sicherheit für Israel und jeden Israeli erreicht wäre, würde sich Israel immer noch unsicher fühlen. Unter den jetzigen Umständen würde keine vertrauensbildende Maßnahme für Israel ausreichend sein. Ich bin überzeugt, daß umfassendere Sicherheit nur durch die Normalisierung der Beziehungen unter den Menschen in der Region geschaffen werden kann. Die beste Garantie für Sicherheit ist immer noch ein gerechter Friede.

Ihre Hauptforderung ist, daß das Osloer Grundsatzabkommen transformiert werden muß. Wohin soll eine solche Transformation führen?

Sie soll zunächst zur Veränderung der Rahmenbedingungen führen. Ein entscheidender Punkt, der verändert werden muß, heißt: keine Verhandlungen in Phasen! Wir müssen ein für allemal ein Abkommen über das Schicksal der besetzten Gebiete treffen. Ein solches Abkommen könnte dann in Phasen umgesetzt werden.

Das bisherige Abkommen basierte auf verschiedenen Vereinbarungen über verschiedene Verhandlungsphasen, und jede Phase basierte auf verschiedenen Einigungen über verschiedene Unterphasen. Israel kann so den Friedensprozeß jederzeit blockieren.

Grundsätzlich muß also das Osloer Abkommen in Richtung umfassender implementation entwickelt werden Das ist das Minimum. Auf ein anderes Abkommen können wir nicht warten, es wird kein besseres geben. Das Interview führte Kirstin Maas