Aufsteigende Seifenblasen

Das Theater ohne Namen (ehemals Zinnober) muß nach 15 Jahren raus aus seinen Räumen. Letzte Eindrücke vor dem Umzug sammelte  ■ Eva Schäfers

Als ich reinkomme, verschwindet der Mann mit dem Schlapphut. Das ist Werner Hennrich, der Regisseur von „Der kleine und der große Klaus“, ein Handpuppenspiel nach Hans Christian Andersen. „Und wer sind Sie?“ frage ich den Mann an der Theke mit der eisgrauen Löwenmähne. – „Ich? Ein Niemand. Der Barkeeper. Was willst du trinken?“ – „Danke nichts, ich bin im Dienst“, will ich sagen, doch der Durst ist stärker.

Der „Niemand“ entpuppt sich als Hartmut Mechtel, Autor von Kriminalromanen und Kasperstücken für Erwachsene. Als klar ist, daß ihn keiner beachtet, traut sich auch Werner Hennrich wieder hervor. Günther Lindner, der Spieler des Stücks, sitzt auch dabei. Entweder redet keiner oder alle auf einmal. Alle drei sind Künstler, aber keiner trägt den schwarzen Rolli und das blasierte Lächeln des arrivierten Stadtbühnen-Regisseurs. Werner trägt zwar einen Schal, aber er wirft ihn immerhin nicht über die Schulter.

„Wer macht bei euch die Pressearbeit?“ – „Keiner bisher. Das ist es ja.“ Der Presseverteiler sei eine Haushaltskladde. Werner sagt, daß sie dem Neuen Deutschland die richtige Hausnummer mitteilen müssen. Nicht 4, sondern 45. Wegen Krankheit sei „Auszug aus dem Märchen“ kurzfristig abgesagt worden. Daher gebe es wenig Publikum. „Meistens ist es viel voller“, sagt der Autor und Barkeeper. „Das heißt“, verbessert er sich, „nicht immer, aber doch oft.“

Subventionen bekommt das Theater o. N., das Theater ohne Namen, keine (bis auf eine einmalige Summe vom Stadtbezirk). Niemand hat Zeit für den Schreibkram. Dafür muß man Bittschriften aufsetzen, Konzepte verfassen und überhaupt heftig antichambrieren – der ganze Quatsch der Selbstdarstellung, des sich Vermarktens, möglichst mit Hochglanzprospekten. Aber die solle es auch in Zukunft nicht geben, sagt Günther, und man glaubt es ihm.

Die Puppen hat Günther selbst gemacht, die Köpfe sind aus Lindenholz geschnitzt. Der große Klaus hat karottenrote Haare mit Koteletten. Mit seinem schwarzgelb gestreiften Jackett sieht er aus wie der Discokönig von Idar- Oberstein. Daneben sieht der kleine Klaus mit seiner Pudelmütze wie ein Bauerntölpel aus. Die Großmutter hat die fahle Haut und die eingefallene Mundpartie einer Greisin, aber sie hat sich mit einem Filzhut sonntäglich herausgeputzt. Günther Lindner bewegt die Handpuppen, spielt dabei Mundharmonika, platscht im Wassereimer herum, brummt tief und thüringisch oder zirpt wie die junge Bäuerin.

Günther sympathisiert mit dem großen Klaus. Diese Figur, die die Pferde und die Großmutter vergeblich totschlägt und sich immer übertölpeln läßt, besitzt für ihn eine große Tragik. Übrigens seien die Kinder nur über den Totschlag der Pferde empört. Die Oma sei ja sowieso schon alt. Das Theater o. N. spielt für Kinder und Erwachsene, nicht nur Märchen, sondern auch improvisativ im „Kollektiv“ erarbeitete Stücke. Heute heißt das Team.

Früher waren sie (unter dem Namen Zinnober) eines der ganz wenigen nichtstaatlichen Theater der DDR, von der Obrigkeit argwöhnisch beobachtet. Nur spielen durften sie nicht. Aufführungen in ihrem „Atelier Werdin“ waren verboten. Nur Gastspiele waren gestattet. Komisch eigentlich, daß die Stasi vor den Bremer Stadtmusikanten so viel Angst hatte.

Und auch ihre „Menschentheater“-Produktionen wie die Szenenfolge „Traumhaft“ – montiert aus Dialogen, Clownerien, Monologen und Liedern – waren nicht politisch, wenigstens nicht so gemeint. Heute gibt es keine ideologischen Widerstände mehr, wohl aber ökonomische. Die Mieten explodieren. Die Vermieterin hat ihnen gekündigt. Eine aus dem Osten, betonen sie. Das Thema West/Ost kehrt immer wieder. So seien Westbesucher sehr erstaunt gewesen, im Publikum viele Türken zu sehen. Und darüber, daß sie nicht angepöbelt wurden. Das amüsiert die Puppenspieler. Wenn es sie auch kränkt, so lassen sie es sich nicht anmerken.

Außerdem scheint der Westen krank zu machen. Immer wieder fallen Vorstellungen wegen Krankheit aus. Immer wieder steht dann „Der große und der kleine Klaus“ auf dem Programm. Doch die Bremer Stadtmusikanten bekomme ich noch zu sehen. Aus dem Grimmschen Märchen hat das Ensemble ein Schattenspiel gemacht.

Scherenschnittfiguren wie die lustige Wäscherin hüpfen über die weiße Leinwand. Sie trägt ihren Bauch und einen Wäschekorb vor sich her. Wenn sie sich umdreht, streckt sie uns ihr riesiges Hinterteil entgegen. Sie wäscht so eifrig, daß Seifenflocken aufsteigen. Uta Schulz, Erzählerin, Geräuschemacherin und Spielerin, bläst kugelige Seifenblasen. „Ist der aus dem Asienladen?“ will ein Kind wissen, als irgendwann Rauch über die Bühne geblasen wird. Sicher weiß es auch, um was es hier geht. Da gründen Tiere, von utilitaristischen Menschenschindern auf die Straße gesetzt, eine autonome Selbsthilfegruppe und besetzen ein Haus. Echte Tier-Power.

Die Kindervorstellung ist zu Ende. Auf dem sonnendurchfluteten Kollwitzplatz fand hier eben noch eine Gedenkveranstaltung zu Ehren der großen Käthe statt. Kinder fahren Rollstuhl, bärenhafte Papas balancieren Babys auf ihren Schultern, andere sitzen vorm Café und trinken Karibiksaft zu sündhaften Preisen.

Das Puppentheater bleibt im Kiez. Das Kollektiv schuftet. Die neue Spielstätte in der Kollwitzstraße 53 soll ab Herbst ihren Betrieb wiederaufnehmen. Dann lassen sie die Puppen wieder tanzen.

Letzte Vorstellungen: heute (10 Uhr): „Die Wichtelmänner“, morgen (16 Uhr): „Die Bremer Stadtmusikanten“, Sonntag (16 Uhr): „Die Geschichte von der dicken Frau“, Theater o. N., Knaackstraße 45, ab Herbst: Kollwitzstraße 53, beides Prenzlauer Berg