Schönes neues Web

Rund vier Millionen Computer, verschaltet im Internet, revolutionieren das Lesen. Das „World Wide Web“ macht es noch einfacher, sich ins Gewebe der Weltbibliothek einzuspeisen. Doch die Kundschafter des Kommerz sind längst auch schon da  ■ Von Jochen Wegner

„Schreiben Sie einfach: Ich freue mich, daß es funktioniert hat“, sagt Tim Berners-Lee etwas nervös – und meint damit eine Erfindung, die den Umgang mit dem verzweigtesten Computernetz der Geschichte revolutioniert hat: dem Internet.

Was das ist und wie man es benutzt, wissen heute Schulkinder, nicht mehr nur irgendwelche Teilchenphysiker. Seine Geschichte ist oft erzählt: Der kalte Krieg war Vater des Dings. Das US-amerikanische Verteidigungsministerium wollte Ende der sechziger Jahre ein Computernetz, das einen Nuklearschlag überlebt. Die Hierarchen bekamen das dehierarchisierte und deshalb schwerer lahmzulegende „Arpanet“. Wie bei Zellen in einem Gewebe konnte im Arpanet jeder Rechner gleichberechtigt mit seinen Nachbarn kommunizieren, Informationen wurden einfach von einem zum anderen bis an den Bestimmungsort weitergereicht. Fiel ein Computer aus, suchten sich die Daten schlicht einen anderen Weg.

Heute sind weltweit über 10.000 hauptsächlich forschungsorientierte Regionalnetze mit vielleicht vier Millionen Computern und damit vierzig Millionen Menschen nach der Idee des kleinen Arpanet verbunden. Daß die Idee des großen Internet in den neunziger Jahren dabei ist, zum Volksgut zu werden, daß seine Nutzerzahlen explodieren, daß Weltpolitiker sich zusammensetzen, um nach seinem Abbild eine „globale Informations-Infrastruktur“, die vielbeschworene „Datenautobahn“, zu erschaffen – das ist, meinen viele, nicht ganz unwesentlich einem Einfall des blonden Briten Tim Berners-Lee zu verdanken.

Stöbern in der Weltbibliothek

Das dezentrale Internet, eine phantastische Bibliothek des Weltwissens, hat nämlich viele systembedingte Mängel. So gibt es keine umfassende Kartei der in alle Datenströme verstreuten Dokumente. Die lagern, in vielen verschiedenen digitalen Formaten, auch noch in unterschiedlichen lokalen Computern – Texte, Bilder, Töne und Musik, ja sogar Filme schlummern im Netz. Auch assoziatives Stöbern in der Weltbibliothek war lange Jahre kaum möglich.

Dank nach und nach entwickelter Archiv- und Suchsysteme mit so drolligen Namen wie „Gopher“ (Wühlmaus), „Wais“, „Veronica“ oder „Archie“ konnte die Netzgemeinde diese Probleme zwar lindern. Doch die Anwendung ist zumindest für Einsteiger schwierig, der Sucherfolg begrenzt.

Außer mit solchen Kür-Diensten müssen sich ernsthafte Netznutzer auch mit der Pflicht historisch gewachsener Grund-Dienste herumschlagen: elektronische Post etwa, öffentliche Diskussionsforen, Dateitransfers oder das Einwählen in andere Computer. Die Nutzer sind gezwungen, mit wechselnden archaischen Befehlsfolgen und kryptischen Netzadressen umzugehen. Das schlimmste von allem: Der Reichtum des Internet ist mit solch drögen Benutzeroberflächen sinnlich (und spielerisch) nicht erfahrbar.

Ironischerweise hatte Tim Berners-Lee, einst Computerexperte am europäischen Zentrum für Hochenergiephysik „Cern“ in Genf, seine revolutionäre Idee, als er versuchte, die mühsame Netznutzung für Teilchenphysiker bequemer zu gestalten. Gleich mehrere der bekannten Probleme wollte er mit einer Konzept- Klappe schlagen, die heute „World Wide Web“ heißt, „weltweites Gewebe“, kurz „WWW“ oder „W 3“.

In 80 Files um die ganze Welt

Zusammen mit Cern-Kollegen prägte er im Jahr 1990 einen neuen Stil, Internet-Daten zu verwalten und auszutauschen. Die ideale Grundlage für die Repräsentation verstreuten Wissens schienen ihm „Hypertext-Dokumente“ zu sein – Texte, die, Fußnoten gleich, Verweise auf andere Texte enthalten. Der Vorteil: Ein Leser kann statt im Urstück weiterzulesen, auf Wunsch sofort den Fußnotentext aufschlagen, der wiederum Verweise auf andere Texte enthalten mag. Eine solche assoziative Lesereise soll, so das WWW-Konzept, unbemerkt um die ganze Welt führen können: In einem Text über Zwölftonmusik auf einem Rechner in Wien könnte mit dem darin auftauchenden Wort „Neue Musik“ fußnotengleich ein Text zur Musikgeschichte in einem Computer in Washington verknüpft sein. Das Nachschlagen eines Washingtoner Verweises zu einer Popdokumentation in Australien könnte schließlich mit der Lektüre einer Abhandlung über HipHop in London enden. Alle Verweise aller Dokumente bilden zusammen ein „weltweites Gewebe“, das, wie das Internet selbst, keine absoluten Hierarchien kennt und sich dem Netz deshalb am besten anschmiegen kann. In jeder Dokumentschachtel können viele neue Schachteln sein, die ihrerseits Schachteln enthalten, und so fort – ein Land aus Schachteln, ohne Ende und Anfang.

Hypertext aber war Berners- Lee nicht genug. Im World Wide Web sollte es gleich sein, ob tatsächlich Texte oder aber Bilder, Töne, Filme, Zeitungslayouts und beliebige andere Standarddaten aus den Internet-Beständen verknüpft werden. Auch ein Porträt von Schönberg sollte im Zwölftontext integriert sein können, das Wort „Klavierstücke“ auf ein irgendwo gespeichertes digitales Musikbeispiel statt auf eine dröge Abhandlung verweisen. So sollte dem Netz ganz im Geist der damals gerade aufkommenden „Multimedia“-Mode auch gleich ein neues, buntes Kleid gewoben werden.

Die wirkliche Kulturrevolution im kargen Netzkosmos, meinen die meisten Experten, hat freilich nicht das ätherische WWW- Konstrukt des Genfer Datenphilosophen an sich ausgelöst, sondern das Programm eines heute 24jährigen US-Informatikers. Noch als Student entwarf Marc Andressen am National Center for Supercomputer Applications (NCSA) in Illinois „Mosaic“, mit dem sich auch blutige Laien erst richtig elegant durchs WWW hangeln können. Bisherige sogenannte „WWW- Browser“, frei übersetzt „Schmöker-“ oder „Leseprogramme“, teilweise direkt am Cern entwickelt, waren so eintönig wie das altbekannte Internet. Mosaic war bunt, zeigte Bilder auf Wunsch direkt an, spielte die Sounddateien oder Filme direkt ab und ließ sich einfach mit der Maus bedienen. Als die schicke Software Anfang 1993 verfügbar wurde, gab es weltweit ganze fünfzig Computer mit Web- Angebot. Im Oktober waren es 500, im Juni 1994 1.500, heute sind es bereits über 15.000 mit grob geschätzt fünf bis zehn Millionen Dokumenten. WWW ist zum zweitgrößten Kapazitätenfresser im Netz geworden. Millionen von Netznutzern hangeln sich verzückt durch eine sprießende Schachtellandschaft.

Businessmen they drink my wine

Und plötzlich sind auch die Geschäftsleute da. Auf der ersten internationalen World-Wide-Web- Konferenz vor einem Jahr am Cern machten sie weniger als ein Prozent der knapp 400 Teilnehmer aus, auf der dritten, die vor einigen Wochen an der Technischen Hochschule in Darmstadt zu Ende ging, waren es schon mehr als die Hälfte.

Die Basis des überbordenden WWW-Angebots bildet immer noch eine Unmasse wissenschaftlicher Informationen von Universitäten, Forschungseinrichtungen und Behörden – von der interaktiven Vivisektion eines Frosches bis hin zur virtuellen Ausstellung. Die Kundschafter des Kommerz im noch ungezähmten World Wide West aber haben längst Wundertüten mit dem akademischen Angebot verwoben. Sei es ein Fläschchen „Graacher Domprobst Beerenauslese“, ein „Pizza-Hut“-Fladen oder eine Beratung beim Schönheitschirurgen – Besitzer einschlägiger Kreditkarten sind in den Hunderten von „Shopping Malls“, virtuellen Einkaufszentren, die zur Zeit im Web entstehen, 24 Stunden am Tag gern gesehen.

Ein Zusammenschluß von inzwischen siebzig US-amerikanischen Kommerzinteressenten, „Commerce Net“, kümmert sich bereits seit Mitte letzten Jahres um die Wegbereitung für technisch korrekten Konsum im schönen neuen Web. Auch in Deutschland scharen sich zaghaft die ersten paar hundert Firmen um zwei Dutzend Anbieter, die sich für „WWW-Präsentationen“ bezahlen lassen. Das deutschsprachige Anbieterspektrum reicht von den Sexgrossisten Beate Uhse und „Orion“ über VW, die Mobilfunker von „e-plus“ und Telekom bis hin zur Fachbuchhandlung J.F. Lehmann.

Fishing for documents

Die taz geht heute auf Web, und auch sonst ist das Brancheninteresse der Printmedien groß: Spiegel, Computer-Zeitung und Computer

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Fortsetzung

Woche, Spectrum der Wissenschaft und andere bieten Web-Seiten zum Produkt. Nicht nur in Deutschland, auch international ist mit WWW effektiv freilich noch kaum Geld zu verdienen. Die meisten kommerziellen Informationsanbieter lockt zur Zeit eher der Wunsch nach mehr Werbung, Image oder Kundenbindung. Ein hohes Gut der zukünftigen virtuellen Konsumgesellschaft wird zudem von den Web-Weisen, die gerade in Darmstadt tagten, in seinen technischen Niederungen noch diskutiert: die Privatheit. Möglichst schnell wollen Insider Standards verabschieden, mit denen die völlig ungeschützt durchs Netz irrenden WWW-Datenpäckchen nach allgemein anerkannten Regeln verschlüsselt werden können, um etwa das Ausspähen von Kreditkartennummern zu verhindern.

Die wahren Datenphilosophen auf dem Darmstädter Weltkongreß vor fünf Wochen sprachen indes allenfalls über Kommunikationsprobleme unter Kriechtieren, Würmern und Spinnen. „Crawler“, „Worms“ oder „Spiders“ heißen jene zur Zeit rund zwanzig Programme, die das Netzgestrüpp als Jäger und Sammler auf Dokumentenpirsch systematisch durchwuseln. Ihre Arbeit soll das alte, im Schachtelland WWW noch potenzierte Internet-Problem gleichsam automatisch lösen: Niemand weiß so genau, wo welche Daten liegen. Das nützliche Datengeziefer, für das teilweise ganze Maschinenparks rechnen, merkt sich je nach Suchphilosophie Adresse, Überschrift oder sogar das Inhaltsdestillat eines neuentdeckten Dokuments und baut nach und nach eine Datenbank des Web-Wissens.

Niemand weiß im Moment genau, welche Kriterien ausreichen, um Hypermedia-Dokumente Büchern gleich einzuordnen, die mit wenigen Merkmalen wie „Verlag“, „Autor“ oder „Titel“ ausreichend beschrieben sind. Doch nur wenn es gelingt, eine solche Konvention zu finden, können die Dokumente der sich rasend verändernden Web-Weltbibliothek sinnvoll archiviert, katalogisiert und über Jahrhunderte für die Nachwelt erhalten werden.

Das ist ein Land wie eine Zwiebel, nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln, in der größten sind nichts als Schachteln, und in der kleinsten ist gar nichts.

Georg Büchner, „Leonce und Lena“