■ In Frankreich gehen vierzehn Jahre Mitterrand zu Ende
: Meister der Mimik

Einer der letzten denkwürdigen Akte François Mitterrands als französischer Präsident war die Einweihung der „Très Grande Bibliothèque“ im Osten von Paris, ein unfertiges Monstrum aus in Glas und Stahl gegossenen Büchertürmen – und völlig leer. Der bisher einzige sozialistische Präsident der Fünften Republik hinterläßt eine beklemmende Ruinenlandschaft. Dies gilt nicht nur für die Mitterrandschen Bauten – die halbleeren Büroklötze im neuen Westpariser Viertel La Défense, wo der nutzlose und strahlend weiße Prachtbau „Arche de la Défense“ eine atemberaubende Perspektive auf den Triumphbogen bietet, oder die bezuglosen Großprojekte um Bibliothek und Bastille-Oper innerhalb der Ostpariser Tristesse. Es gilt auch für Mitterrands politische Träume, die ja ebenfalls die französische Alltäglichkeit transzendieren sollten: der Aufbau des geeinten Europas sowie – dies nach anfänglichem Elan rasch seiner Ehefrau überlassen – das Engagement für humanere Verhältnisse zwischen Nord und Süd. Von diesen Projekten bleiben nur Karikaturen: Die Impotenz französischer Blauhelme in Exjugoslawien, Symbol einer gescheiterten europäischen Außenpolitik; und die Hunderttausenden Toten in Ruanda, Tiefpunkt einer besonders verbrecherisch wirksamen Nord-Süd-Klientelbeziehung.

Die Ära Mitterrand war eine Ära der Suggestion. Bei seinem Sieg 1981 verkörperte Mitterrand vor allem von Deutschland aus gesehen noch jene utopischen Hoffnungen, die seit jeher als in Frankreich beheimatet gelten. Doch nach den Reformen der frühen Jahre, deren Bedeutung heute allzuleicht minimiert wird – Abschaffung der Todesstrafe, Einstieg in Arbeitszeitverkürzung und Sozialpartnerschaft, Festigung der Bürgerrechte – blieb lediglich die Mimik des Fortschritts: Jugendfrische, verkörpert im 37jährigen Premierminister Laurent Fabius nach dem Bruch mit den Kommunisten 1984; Radikalität, immer wieder rhetorisch beansprucht während der Kohabitation mit Premierminister Jacques Chirac 1986 bis 1988; wahlwirksame Andeutungen einer hinter dem Horizont schlummernden Morgenröte – die lendemains qui chantent – zu der jedoch der Weg noch lang und steinig sei.

Selbst in der eher byzantinischen zweiten Amtsperiode blieb durch alle Kabinettsgrotesken hindurch die Fata Morgana des Fortschritts erhalten. Mitterrand trieb seinen klügsten sozialistischen Rivalen, den resolut anti-utopischen und dem Alltagsleben verpflichteten Michel Rocard, zwar nach drei Jahren fruchtloser Amtszeit in die politische Wüste und den braven Sparkommissar Pierre Bérégovoy in den Selbstmord; doch daneben wuchs fast unmerklich ein vor allem im Ausland geschätztes „neues Frankreich“ aus stabilen Parteien und stabiler Währung, intern verkauft als Vorbedingung für das zukünftige bessere Leben.

Die immer wieder verschobene Hoffnung – das ist Mitterrands Vermächtnis. Von Hoffnung war auch jetzt wieder die Rede, als Chiracs Anhänger am Wahlabend des 7.Mai in Paris tanzten. „Frankreich wird wieder ein Leitstern für alle Völker der Welt werden, und dies ist seine Berufung!“ brüstete sich der Sieger in seiner Siegeserklärung. War Mitterrands Projekt die Vereinigung Europas, so ist Chiracs Ambition die Wiedervereinigung Frankreichs, die Überwindung von sozialer Spaltung, exclusion und Verarmung. „Wenn wir diese Mißstände zum Zurückweichen gebracht haben, wird Frankreich wieder es selbst“, rief Chirac: „Von neuem wird in unserem Land die Hoffnung auf sozialen Aufstieg entstehen; von neuem wird man Fortschritt erwarten und Zukunft erhoffen.“

Das ist Suggestion pur, allerdings nicht ohne Widersprüche. Von „Wandel gegen Konservatismus“ spricht mit Chirac ein Präsident, der seine Karriere den versammelten Konservativen seines Landes verdankt. Der Verdacht liegt nahe, daß der „Wandel“ sich vor allem gegen solche Transformationen richten wird, die das Gesicht Frankreichs in den vierzehn Jahren Mitterrand verändert haben: Der Siegeszug des Schnellimbisses, der das Bistro als Kommunikationsort verdrängte; die Verödung des von der EU-Agrarmodernisierung gebeutelten ländlichen Raums, traditioneller Nährboden des französischen Konservatismus; die Durchsetzung der Notenbankdisziplin, die den politischen Voluntarismus abgelöst hat.

Will Chirac, wie angekündigt, als erstes die Massenarbeitslosigkeit bekämpfen, hat er es sofort mit einer Hinterlassenschaft zu tun, die nicht nur die Mitterrands ist, sondern auch die seines jüngsten Widersachers Lionel Jospin. Dieser setzte als Bildungsminister (1988 bis 1992) Frankreich das Ziel, bis zum Jahr 2000 80 Prozent aller Schulabgänger mit dem Baccalauréat, dem französischen Abitur, zu versehen. Es ist vor allem dieses ebenso grandiose wie unfertige Projekt, das Frankreichs Jugend eine tiefe Kluft zwischen den staatlich ermutigten Aspirationen des sozialen Aufstiegs und den ökonomisch bedingten Realitäten der knappen Arbeitsplätze aufgezeigt und damit die Saat der Revolte gelegt hat. Chirac wird nicht umhin können, entweder diesen vergifteten Kelch Jospins zu leeren, indem er tatsächlich hochqualifizierte Arbeitsplätze herbeizaubert – oder zwecks Reduzierung der Jugenderwartungen eine Bildungsreform zu wagen, an der er sich schon 1986 als Premierminister im Angesicht revoltierender Jugendlicher die Zähne ausbiß, 1994 schließlich auch Edouard Balladur.

Dem Schatten Mitterrands kann Chirac nicht entrinnen. Er kann ihn sich nur aneignen. Das wiederum könnte ihm gefährlich leicht fallen, denn die Ähnlichkeiten zwischen beiden Politikern sind frappierend. Beide gewannen die Präsidentschaftswahl erst im dritten Anlauf, also als erfahrene Meister des Taktierens. Beide begannen ihren politischen Aufstieg mit der Gründung eigener Parteien – Mitterrand rief 1971 die sozialistische PS ins Leben, Chirac 1976 die neogaullistische RPR – die ihnen dann als Wahlmaschinen dienten. Beide, und das ist wohl am wichtigsten, beherrschen die Kunst des Schillerns, sie haben erfolgreich an einer Aura gearbeitet, die über politische Abgrenzungen hinausstrahlt. Mitterrand war nicht nur links, sondern in seinem Festhalten an Großmachtpolitik und Geheimdienstmentalität auch rechts, ganz früher – wie man inzwischen weiß – zuweilen sogar sehr rechts. Chirac gewann die Wahl nicht als Rechter, sondern als Sozialpopulist, mit dezenten Hinweisen auf rote Flecken in der eigenen Biografie.

Vielleicht ist eine solche Mehrdimensionalität – die Balladur und Jospin fehlt – ja die Voraussetzung, um eine Amtszeit als „Präsident aller Franzosen“ zu überstehen. Aber es ist zugleich bezeichnend, daß Mitterrand seine schillernde Selbstinszenierung erst zum Abgang voll entfaltete, gewissermaßen als Verklärung, während Chirac die seine schon ausschöpfen mußte, um überhaupt in den Élyséepalast zu gelangen. Steigern kann sich Chirac nun nicht mehr. Sein Weg führt abwärts. Es liegt an den Franzosen, wie weit sie ihm dabei folgen. Dominic Johnson