Dissidenten im Internet

■ Auf "soc.religion.islam" tobt ein heiliger Krieg, auf "http://web.cnam.fr/sarajevo" ruft man Sarajevo

Schon einmal „Salvador Radio Venceremos“ gehört oder „Freies Radio Sarajevo“? Nein, nicht mit Knirschen auf Kurzwelle im Weltempfänger, sondern über Computer? Die Gemeinde der Laptop- Freaks, die politische Informationen über e-mail beziehen und mit Andersdenkenden überall auf der Welt kommunizieren, ist in Deutschland noch verschwindend klein. Noch ist es nicht in, daran teilzunehmen.

Selbst unter Journalisten gibt es viele, die nicht glauben wollen, daß Agenturmeldungen bald der Vergangenheit angehören, Fachzeitschriften in Zukunft nicht mehr am Kiosk ausliegen, sondern in Netze gespeist werden. Dabei gilt schon heute: Underground-news sind schneller auf dem Netz als in Alternativzeitungen.

Derzeit tobt in der Internet- Mailbox „soc.religion.islam“, ein heiliger Krieg, an dem sich etwa 30.000 PC-Besitzer beteiligen. Es geht um die alte Frage, welcher Gott der beste ist. Wer dagegen wissen will, ob der Sozialismus noch eine Chance hat, der wähle einfach über „Association Progressive Communication“ (APC) die Moskauer Glasnost-Adressen an, kurz „glasnet“ genannt.

Eines ist überall sicher: Man schwimmt in Informationen, die kein Stapel an Zeitungen ersetzen kann. Wie lebenswichtig e-mailen werden kann, zeigt sich im ehemaligen Jugoslawien. Durch den Krieg in Kroatien und Bosnien sind Hunderttausende Bürger von Informationen und internationalen Kontakten abgeschnitten. Vor allem Kriegsdienstgegner sahen für sich keine andere Möglichkeit als die Blockade über elektronische Netze zu durchbrechen. In Belgrad, Zagreb, Ljubljana und Sarajevo entstand vor drei Jahren ein Zirkel von Pazifisten, die sich „zamir“ (deutsch: „für Frieden“) nannten. Unter Mithilfe der Uno wurden ihre Bulletins auf Datenbanken geladen, mehr und mehr Selbsthilfegruppen schlossen sich mit der Zeit dem Projekt an, ein spannendes Kommunikationsforum entstand. Auf „zamir“ diskutieren im Augenblick Serben mit Kroaten über den Eroberungsfeldzug der kroatischen Armee in Westslawonien, Kroaten mit Bosniern über die Chancen einer Konföderation, und Albaner und Griechen entwickeln Konzepte, mit denen eine Ausweitung des Konflikts auf den Südbalkan verhindern werden soll.

Gegen das Internet sind die Regierungen machtlos

Unter der Adresse „http://web. cnam.fr/Sarajevo“ suchen die Eingeschlossenen der bosnischen Hauptstadt den Kontakt zur großen Welt. Wer Jugendlichen in Sarajevo ein neues Computerspiel zukommen lassen will oder glaubt, er habe spannende Weltnachrichten weiterzuleiten, der greife zur Adresse „sarajevoonline-en6

cnam.fr“. Die allgemeine Diskussion über den Krieg läuft über „soc.culture.bosna-herzgvna“.

Doch auch in anderen Weltteilen wird von elektronischen Netzen reger Gebrauch gemacht — vor allem in China. Denn das Regime kann zwar kritische Stimmen in den staatlichen Medien unterdrücken und oppositionelle Zeitungsprojekte im Keim ersticken, doch keine Datennetze unterbinden. Da fast jede Universität der Welt mit anderen über Datenbanken verbunden ist, internationale Konzerne über diese Knotenpunkte Informationen austauschen und die Offiziellen in der Volksrepublik davon selbst regelmäßig Gebrauch machen (Adresse „http://www.cnc.ac.cn“) kommt auch jeder kritische Kopf mit ein bißchen Geschick und einem PC in die Netze hinein.

So läuft über den Knoten „http://theory10.rutgers.edu:8001/ HXWZoGB/cm9503b“ ein von oppositionellen Chinesen betriebener Pressedienst, immer mit den jüngsten Meldungen aus der Pekinger Gerüchteküche. Auch zur Lage der Menschenrechte findet sich täglich neues über „http:// www.ifcss.org.8001/human-rights/ dignity“.

Wer anonyme Post bekommen und verschicken will, Terroraufrufe und obskure Geheimdienstberichte, der findet im fernen Finnland unter „mazel.tov“ eine Gruppe von Computerfreaks, die sich auf „underground“ spezialisierten. Im März lüfteten diese Betreiber erstmals den Namen des derzeit amtierenden Inland-Geheimdienstchefs von Israel — sein Name darf nach israelischen Zensurbestimmungen nämlich nur mit einem Großbuchstaben angegeben werden.

Mager sei es dagegen mit Informationen aus Deutschland, klagen die Mazel-Freaks, nichts Brisantes werde geliefert, weder zur Ex-Stasi noch zum BND. Karl Gersuny, Wien

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