Zoologisch kühler Blick

Der dreiunddreißigjährige Durs Grünbein, designierter Büchner-Preisträger, ist auf dem besten Wege, der erste gesamtdeutsche Dichter-Star zu werden  ■ Von Jörg Lau

Vor sechs Jahren hat Durs Grünbein schon einmal einen Preis in Darmstadt erhalten: den Förderpreis zum Leonce-und-Lena- Preis, dessen schmale Prämie von seinerzeit 6.000 Mark er sich allerdings mit dem nachmals wg. Stasi zu trauriger Berühmtheit gelangten Dichterkollegen Rainer Schedlinski teilen mußte. Damals wurden beide noch unter der Rubrik des „vielversprechenden jungen DDR-Autors“ verbucht, und zur Begleitmusik ost-westlicher Dichtertreffen gehörte der Protest gegen eine byzantinische Kulturbürokratie jenes seltsamen Landes, die nichts so sehr fürchtete wie die Lyrik Lutz Rathenows. (Der hatte abermals nicht ausreisen dürfen, Kurt Drawert, Schedlinski und Grünbein legten Protest ein.)

„DDR-Autoren?“ Eigenartige Ironie: Schedlinski, der damals als Speerspitze der postmodernen Öffnung der lyrischen Sprache des Ostens galt, erscheint heute als Archetyp der späten DDR und hat geringe Chancen, sein Label jemals wieder loszuwerden. Grünbein, damals als neue, eigensinnige Stimme aus der ostdeutschen Nische gepriesen, als einer, dessen Texte, wie er selber formulierte, vom stillen Versuch zeugen, „im Winterschlaf einer Gesellschaft lebendig zu bleiben“, dieser Grünbein wird in diesem Jahr in Darmstadt als genuine lyrische Stimme der neuen deutschen Republik geehrt werden. Auch ihm hängt jetzt ein Label an — das des ersten gesamtdeutschen Dichters. Durs Grünbein erhält im Herbst den Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, den angesehensten Literaturpreis hierzulande. Aber wer auch nur ein paar seiner Gedichte gelesen hat, weiß, das ist keiner, den man so leicht einfängt. Grünbein ist zu neugierig, als daß er sich festloben ließe. Wahrscheinlich wird ihn, zur Freude der Leserschaft, das staatstragende Etikett „Stimme der Einheit“ sogar zu neuen Fluchten anfeuern.

Grünbein ist, spätestens seitdem im letzten Jahr sein Gedichtband „Falten und Fallen“ unisono als das literarische Ereignis des Jahres gewertet wurde, auf dem besten Wege, eine untergegangene und verloren geglaubte Figur wiederzubeleben — er ist der erste Dichter-Star seit den Tagen Enzensbergers und Handkes, jenen anderen beiden, denen der Büchner-Preis in jungen Jahren und nicht erst als Trost bei Erreichen des kreativen Ruhestands verliehen wurde. Wer hätte gedacht, daß die Darmstädter Akademie sich noch einmal aufraffen würde, mit ihrer Entscheidung ein Zeichen zu setzen und etwas zu riskieren?

Riskant wird die Entscheidung nicht so sehr durch Grünbeins Jugend, die es ihm im Unterschied zu den meisten seiner VorgängerInnen immerhin möglich macht, sich im nachhinein noch als unwürdig zu erweisen. Es zeugt ja nur von der Vergreisung der Literaturszene hierzulande, wenn man es als unerhörte Ausnahme empfindet, daß ein Preis, der nach einem mit 23 Jahren Verstorbenen benannt ist, an einen 33jährigen geht.

Riskant ist die Sache dadurch, daß Grünbein weit und breit der einzige ist, in dessen Lyrik etwas von dem Druck zu spüren ist, dem Dichtung heute ausgesetzt ist, von den Konkurrenzverhältnissen, in denen sie steht. Das Leben ist kein Bachmann-Wettbewerb; da draußen gibt es eine Menge Leute, die in der Schule schon mit Benn & Brinkmann & Enzensberger gefüttert worden sind. Die wenigsten von ihnen werden dann Lyriker im Sinne unserer Akademien, in deren Sichtkreis CD-Booklets noch nicht aufgetaucht zu sein scheinen. Ich weiß nicht, ob Grünbein, der Sonic Youth kennt, auch Blumfeld hört. Jedenfalls sind seine Zeilen die einzigen aus der heutigen Produktion, die es in Hinsicht auf die Wallungswerte mit Jochen Distelmeyers Schaffen aufnehmen können. Und das will schon etwas heißen, denn der hat Gitarren, und er hat einen „Verstärker“.

Zu „Falten und Fallen“, Grünbeins bisher stärkstem Gedichtband, ist im letzten Jahr schon fast alles gesagt worden. Wer ihn sich jetzt noch einmal vornimmt, wird die erste Euphorie bestätigt finden. Es war nicht bloß die Dürre der restlichen Produkte, die diesem Buch seine Aufmerksamkeit zutrug. Man kann wieder und wieder darin lesen und immer neues poetisches Material finden, das etwas zum Klingen bringt. Erstaunlich genug, zu wie vielen Themen Grünbein seinen Ton findet — Kindheitserinnerungen, Liebesnächte, anthropologische Meditationen, die Physiognomie der „politischen Barbaren“ mit ihren Großwildjagden und Bruderküssen — alles das gibt es also.

Am anrührendsten erscheint mir jetzt beim Wiederlesen der liebeslyrische Zyklus „Im Zweieck“, in dem ein zoologisch kühler Blick staunend Frottiergeräusche, Cremestreifen und Matratzenrituale verzeichnet, eine Reminiszenz an „Zeiten und Szenen, wo es jeder mit jedem zum ersten Mal trieb“: „Wo Umarmung nicht hielt, half uns Flüstern zurück, züngelnd / Zu den Konturen der Körper, von keiner Extase verwischt. / Härter mit jeder Berührung, wie beim Putzen der tote Fisch / Blieben die Sehnen gespannt, die lauernden Muskeln im Nacken / Fühlbar wie Schädelnähte, Stränge zu einem entblößten Herz, / Das wir stückweise aßen, uns fütternd, aller Verbote bewußt.“

Das ist sehr schön und preiswürdig gesprochen und verweist ganz nebenbei, wie es da so steht, auf einen weiteren Grund, warum Durs Grünbein der Büchner-Preis gebührt: Bei der jetzt fälligen Neuauflage wird man sicherlich Gelegenheit finden, dem Loblied der großen Verzückung – gr. Ekstase –, die nötige orthographische Ehre angedeihen zu lassen.

Glückwunsch!