Spielball zwischen Indien und Pakistan

Proteste nach der Zerstörung der Moschee und des heiligen Schreins im indischen Teil Kaschmirs / Schuldzuweisungen und scharfe Warnungen der Politiker in Islamabad und Delhi  ■ Von Bernard Imhasly

Delhi (taz) – Die Zerstörung der symbolträchtigen Pilgerstätte im kaschmirischen Ort Charar- i-Sharif hat heftige Reaktionen auf allen Seiten hervorgerufen. Bei Protestdemonstrationen in zahlreichen Städten des Jhelum-Tals machten die Menschen Indien für die Brandstiftung verantwortlich. Als die Polizei in der kaschmirischen Sommerhauptstadt Srinagar die Ausgangssperre durchsetzen wollte, kam es zu Straßenkämpfen, es gab Tote und zahlreiche Verletzte.

Die Regierung Pakistans verurteilte das „Sakrileg“ und bezeichnete es als einen Affront für die Muslime der Welt, deren Sensibilitäten Indien gleichgültig seien.

Scharf reagierte auf der anderen Seite auch der indische Premierminister Narasimha Rao. Er sprach von einem „barbarischen Zerstörungsakt“, ausgeführt „durch Kräfte, die kein Interesse an einer Normalisierung der Lage haben und ebensowenig Respekt für heilige Stätten und die Gefühle der Bevölkerung“ zeigten. Innenminister Rajesh Pilot ging noch weiter: Ein Teil von Kaschmir sei schließlich von Pakistan besetzt. Das gehöre zum „unfinished business“ Indiens, und falls Pakistan mit seinen Nadelstichen nicht aufhöre, „haben wir keine andere Wahl, als diesen Job zu Ende zu führen“.

Für die indische Öffentlichkeit gibt es keinen Zweifel an den Urhebern der Brandstiftung: hauptsächlich aus pakistanischen Kaschmiris und Afghanen bestehende Kampfgruppen der „Harkat-al- Ansar“ und „Hezbul Mujaheddin“, die vor zwei Monaten den Komplex um den Schrein von Sheikh Nuruddin besetzt hatten. Diese Leute seien Vertreter einer Form des Islam, meint der Pioneer, dem solche Gedenkstätten verhaßt seien. Ihr Anführer, der Afghane Mast Gul, hat in zahlreichen Erklärungen gedroht, das Heiligtum zu zerstören, falls die indische Armee es wagen sollte, seine Leute anzugreifen.

Zwar gibt es auch in Delhi Stimmen, welche der indischen Regierung zutrauen, die wichtigste Pilgerstätte Kaschmirs anzuzünden – in der zynischen Hoffnung, daß der Verdacht auf die Belagerer fallen könnte. Schwer vorstellbar scheint aber, daß die Führung dies gerade in einem Zeitraum tun würde, in dem sie eine günstige Atmosphäre für Wahlen zu schaffen sucht. Erst vor einer Woche hatte Premierminister Rao die Absicht bekräftigt, Wahlen noch vor dem 18. Juli durchzuführen. Dann läuft die Frist ab, in welcher der Unionsstaat direkt von Delhi aus regiert werden kann. Nur eine Verfassungsänderung könnte diese Frist ein weiteres Mal verlängern.

Allerdings haben die Verfechter der Unabhängigkeit Kaschmirs oder seines Anschlusses an Pakistan die angekündigten Wahlen rundheraus abgelehnt.

Die indische Regierung würde überdies ein solches „Exempel“ wohl kaum an einem Symbol des friedlichen Zusammenlebens zwischen Hindus und Muslimen statuieren, auf den Indien besonders stolz ist. Tatsächlich ist Sheikh Nuruddin der Mitbegründer einer für Kaschmir typischen Form von Islam, die bei der „Missionierung“ des Tals im 15. Jahrhundert viele Elemente des lokalen Hinduismus übernommen hatte. Nuruddin ist als „Rishi“ – der Bezeichnung für asketische Hindu-Mönche – in die Geschichte eingegangen. Während die Verehrung von „Rishis“ für strenggläubige Muslime reine Blasphemie ist, hat sie in Kaschmir eine lange Tradition. Sie ist unter dem Namen „Kashmiryat“ ein wichtiger Teil der kulturellen Identität des Volks geworden, und stützt heute die Forderung nach Selbstbestimmung außerhalb des Staatsverbands von Indien und Pakistan.

Für beide Länder bedeutet „Kashmiryat“ eine Gefährdung ihrer Ansprüche: Pakistan fordert die Eingliederung Kaschmirs im Namen einer Rückkehr in die muslimische Völkergemeinschaft der „Umma“. Indiens Selbstverständnis dagegen gründet auf der Idee des Zusammenlebens aller Religionsgemeinschaften, besonders aber der muslimischen Minderheit, die größer ist als die Gesamtbevölkerung Pakistans. Die Regierung in Delhi will die muslimischen Kaschmiris, allerdings mehr als halbherzig, davon überzeugen, daß sie im indischen Staatsverband besser aufgehoben sind als in einem islamischen Pakistan, in dem Abweichungen von der reinen Sunni-Lehre immer mehr zum Gegenstand von Haßkampagnen werden.

Während fünf Jahren nun ist das Hochtal im nordöstlichen Himalaya Bürgerkriegszone, in der nach offiziellen Angaben 125.000 Soldaten und Paramilitärs und nach Darstellung ihrer Gegner das Drei- bis Vierfache davon stationiert sind.

Erst wenn alle bewaffneten Separatisten vernichtet sind, so die Doktrin von Delhis Statthalter in Srinagar, General Krishna Rao, könne eine politische Öffnung folgen. Diese Politik hat dem Separatismus erst eigentlich Nahrung gegeben, weil sie große Teile der Bevölkerung zu unschuldigen Opfern des Konflikts gemacht hat.

Noch immer vermag die indische Zentralregierung zudem nicht zu sagen, was sie unter einer größeren Autonomie für Kaschmir versteht.

Die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen haben zudem die internationale Öffentlichkeit alarmiert. Im vergangenen Jahr, als die indische Regierung sich vor der UNO-Menschenrechtskommission in Genf an den Pranger gestellt sah, versprach sie, dem Internationalen Roten Kreuz Zugang zu Gefangenen in Kaschmir zu gewähren. Trotz zahlreichen Demarchen wartet die Genfer Organisation immer noch auf das grüne Licht der Behörden.