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Das Leben ist anderswo

■ Das Katona-Jószef-Theater aus Budapest spielt „Everywoman“

„Ich bin der Tod, ich scheu keinen Mann / Tret jeglichen an und verschone keinen.“ Die Konfrontation mit dem Tod nimmt dem Menschen seine Besonderheit, beraubt ihn der Zukunft und enthüllt sein Leben. Wie schon Hugo von Hofmannsthal bei seinem Jedermann diente auch dem jungen Ungarn Péter Kárpáti das anonyme englischsprachige Everyman-Spiel von 1529 als fernes Vorbild für sein modernes Mysterienspiel Everywoman. Am Wochenende wurde es auf Kampnagel vom berühmten Katona-Jószef-Theater aus Budapest aufgeführt, einer Theatertruppe, die unter der Regie von Gábor Zsámbéki mit sparsamen Mitteln Intensität zu schaffen vermag. Der enge Bühnenraum zeigt in rascher Folge neun eindringliche Bilder in blasser Farbgebung und karger Ausstattung.

Krasse Mängel der Gegenwart bestimmen den Handlungsrahmen. Die Wohnungsnot in der ungarischen Hauptstadt Budapest nutzt die skrupellose Maklerin Emma für ihre dubiose Wohnungsbörse: Menschen lassen ihre wahrscheinliche Lebensdauer von Ärzten ermitteln und verkaufen daraufhin ihre Wohnungen bereits zu Lebzeiten, um mit dem so erworbenen Geld „das Leben genießen“ zu können. Die Lebensdauer als Ware, Lebenserwartung versus Leben – Geld wird zum alleinigen Lebensmittel.

Der Tod tritt auf und kündigt der Maklerin das nahe Ende an. In einer ersten Reaktion will sie sich vom Tod freikaufen und muß schließlich doch begreifen, daß körperliche Symptome bereits das nahe Ende ankündigen. Emma besucht die Menschen, die sie kennt, sie beginnt, sich „das Leben abzugewöhnen“. Im Verlauf der Handlung wird sichtbar, wie isoliert und mechanisch die Personen aneinander vorbei leben – die Mutter Emmas, die Freundin, die Tochter, der geschiedene Ehemann, sie empfinden nichts füreinander.

Zerfahren, gehetzt, verzweifelt überspannt spielt Eszter Csákányi die Hauptrolle, ständig an sich herumzerrend, ruhelos. Nicht einmal in ihrem Körper ist sie zu Hause. Emma läuft dem Tod schließlich in die Arme, läßt sich von der U-Bahn zerquetschen. Was zuvor noch geregelt werden mußte? Waschmaschine, Reinigung, Friedhof – in einer gottlosen Welt bleibt Emma bis zum Ende um die Banalitäten des Alltags besorgt, der andere Mensch bleibt unerreichbar. Kárpátis Every-woman entwirft ein trostloses Bild des gegenwärtigen Menschen: „Wozu sind wir von den Bäumen gestiegen? Um den Stein aufzuheben, den wir dem anderen über den Schädel schlagen.“

Das Leben ist anderswo – dieses Gastspiel war eine außerordentliche, nachdenkliche Eröffnung der Hamburger Ungarntage.

Frauke Hamann

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