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■ Nebensachen aus TokioDer Tod ist ein Meister aus Japan

Samstagabend in der Tokioter Stadtbahn Richtung Shinjuku. Louis, fast drei Jahre alt, zappelt auf meinen Schultern, während der Fahrgast neben mir die kommunistische Tageszeitung Akahata aufschlägt. Die Zeitung hat Fotos aus Deutschland von den jüngsten Demonstrationen zum 8. Mai abgedruckt: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ ist dort auf Plakaten zu lesen. Richtig! Geht es durch meinen Kopf. Dieser Meister Tod ließ die Menschen in Gaskammern hinrichten, und bis heute fühle ich: Einen schlimmeren Tod kann es nicht geben.

Meine Gedanken reißen ab, als die S-Bahn in Shinjuku hält. Eine tolle Menge drängt sich über den Bahnsteig. Shinjuku-eki ist Tokios eigentlicher Hauptbahnhof. Nirgendwo sonst ist die Stadt so bunt durchmischt. Wir müssen auf die Rundlinie Yamanote umsteigen und deshalb die große Bahnhofshalle durchqueren.

Vermutlich mischt sich in jeder größeren Bahnhofshalle der Welt eine Unzahl von Gerüchen. Doch mir ist das in dieser Minute nicht bewußt. Ich sehe nur die Polizisten, die die Fahrkartenschalter kontrollieren, atme dabei einen scharfen, unbekannten Geruch ein und merke, wie meine Knie schwach werden. Ich sehe mich noch das Kind greifen, die Halle durchlaufen und erst haltmachen, als wir draußen wieder frische Luft atmen können. Da kommen die japanischen Freunde lachend hinter uns her gerannt.

So richtig mitlachen aber konnte ich nicht: In der gleichen Bahnhofshalle hatten die mutmaßlichen Attentäter der Sekte „Aum Shinrikyo“ vor zwei Wochen zwei Tüten deponiert, die vermutlich Tausende von unbeteiligten Bahnhofspassanten getötet hätten, wäre ihre Explosion nicht in letzter Sekunde vereitelt worden.

Seither hatte ich den Eindruck, daß es sich kaum lohnt, mit Japanern über das wahre Ausmaß dieser Bedrohung zu sprechen, weil sie die denkbare Gefahr aufgrund ihres allgemein vorherrschenden Sicherheitsgefühls gar nicht wahrnehmen. Was sich aber nun durch meinen einsamen Schrecken in der Bahnhofshalle festsetzte, war der wiederkehrende Gedanke: Der Tod ist ein Meister aus Japan.

Nehmen wir doch einmal an, es stimmt, was die japanische Polizei inzwischen meint beweisen zu können: daß nämlich die idyllisch am Fuß des Fujiyamas angesiedelte Chemiefabrik von Aum Shinrikyo als Massenproduktionsstätte für das von den Nazis entwickelte Giftgas Sarin hergerichtet war. Einem Stoff, der nur den grausamsten Zwecken dienen kann: etwa dem Massenmord. Wäre nun die Aum-Fabrik eines Tages auf Hochtouren gelaufen, hätte sie – immer nach Angaben der japanischen Polizei – täglich genug Sarin produziert, um eine Million Menschen zu töten.

Da liegt es nahe, die Chemiefabrik am Fujiyama in die Tradition der industriellen Menschenvernichtung einzureihen. Gerade die kühle Akribie, mit der die Aum- Leute ihr Planwerk umsetzten, erinnert an die entrückte Unmenschlichkeit der Nazis. Was also bedarf es noch, um in Shinjuku, wo Sektenguru Shoko Asahara die Katastrophe bereits angekündigt hat, die Ruhe zu verlieren?

Hans-Magnus Enzensberger hatte mit seinem Vergleich zwischen Adolf Hitler und Saddam Hussein vielleicht doch recht: Hitler erfand Sarin, Hussein setzte es ein, und die Aum-Sekte hat sicher von beiden etwas gelernt. Der Tod ist also auch ein Meister aus Japan. Georg Blume

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