Per Maus-Klick, aber ideologiefrei

Bersarin neben dem Klo, Verbrechen im Computer: Das neugestaltete und wiedereröffnete Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst präsentiert sich kalt, sachlich, informativ und technisch ganz auf der Höhe der Zeit  ■ Von Anita Kugler

Lenin ist verkauft. Der Leuchttisch mit dem militärischen Angriffsplan auf Berlin ist verschwunden und ebenfalls all die unglaublich rührenden, pathetischen Andenken der Rotarmisten an ihren heldenhaften Sturm auf Berlin. Vorbei, vorbei. Niemals mehr wird der zerschossene Komsomol-Ausweis des Soldaten Alexejew zu sehen sein und die Kopie des Seidentuchs, auf das die Partisanin Olga Rschewskaja Grüße an ihre Familie schrieb, bevor sie von den Deutschen erschossen wurde. In die Kellervitrine verbannt ist das Sturmgewehr eines Scharfschützen, der für jeden Treffer ein Sternchen auf den Griff nagelte, und in den Keller abgeschoben ist auch die goldfarbene Büste des ersten Stadtkommandanten von Berlin, Nikolai Bersarin. Er glänzt jetzt rechts unten, gleich neben dem Klo. Bald wird er endgültig als historische Persönlichkeit erledigt, nämlich dann, wenn sich die Hauptstadtpläne durchsetzen und der jetzige Bersarinplatz in Baltenplatz umbenannt wird.

An dieser Attacke ist die deutsch-russische Expertenkommission unschuldig, die in dreijähriger gemeinsamer Arbeit das ehemalige sowjetische Museum mit dem pompösen Titel „Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945“ in ein solides „Museum Berlin-Karlshorst“ ummodelte. Ihr Auftrag lautete, nachdem die GUS-Armee abgezogen und damit der Erziehungsaufgabe des sowjetischen Museums obsolet geworden war, das Haus, in dem am 8.Mai 1945 die Wehrmacht- Führung ihre Schmach besiegelte, in einen Hort der Völkerverständigung zu verwandeln.

Weg mit den Ikonen und dem militärischen Heldentum – auch wenn viele (vor allem westdeutsche Linke) die Sammlung am liebsten als Gesamtkunstwerk unter Denkmalschutz gestellt hätten –, und her mit einem Museum, in dem die deutsch-russischen Beziehungen von 1917 bis heute und natürlich vor allem der große Krieg zu besichtigen ist. Die Bolschewistenhatz, der Hitler-Stalin-Pakt, der Plan Barbarossa und die Folgen, vergewaltigte Frauen und Flucht über die Ostsee, der Verehrungskult der DDR bis hin zu den 1994 ausgebuddelten Stahlhelmen auf den Seelower Höhen. Und all dies objektiv, sachlich, ideologiefrei, nicht relativierend, eben zivil und technisch-didaktisch natürlich auf dem allerneuesten Stand.

Ist dieser Spagat den je sieben russischen und deutschen Ausstellungsmachern (in Deutschland unter der Verantwortung des Deutschen Historischen Museums, also Christoph Stölzl) aber auch geglückt? Die Antwort lautet jein. Ja, weil in diesem neuen Museum für den Besucher, der stundenlang Zeit hat und sich auch alle Filme anschaut, alles zu finden ist. Und nein, weil Zusammengehörendes durch die Systematisierung auseinandergerissen wurde. Der ganze Krieg ist zu einer Ansammlung von übereinander gelagerten Fakten geworden, kühl in weißen Räumen und Vitrinen serviert. So steril, als ob er nicht von Menschen, sondern von Schreibtischen geführt worden ist. In dem Raum, in dem die deutschen Kriegsvorbereitungen präsentiert werden, sind in einer Dokumentenmappe zwölf Regeln eines Kreislandwirtschaftsamtes für die Kolonisierung des Landes zu lesen. „Wir wollen die Russen nicht zum Nationalsozialismus bekehren, sondern sie zu unserem Werkzeug machen“, heißt es da. Und nur kein Mitleid mit dem Russen, denn „sein Magen ist dehnbar“. Daß später Millionen von sowjetischen Kriegsgefangenen verhungerten, weil ihr Magen nicht dehnbar genug war, daß dieser Krieg eben kein Krieg gegen eine Armee, sondern ein Vernichtungsfeldzug gegen die Zivilbevölkerung war, wird von den Ausstellungsmachern an anderer Stelle erwähnt. Alles ist periodisiert, systematisiert, nirgends werden Fakten aufeinander zugespitzt. Die Ansammlung von Dokumenten beeindruckt, doch der Eindruck bleibt blaß.

Beispiele für diese Zaghaftigkeit sind in Karlshorst genügend zu finden. In einer Vitrine liegt ein Taschendolmetscher für Frontsoldaten. „Ruski wwerch“, Hände hoch, ruft auf dem Titelblatt ein Soldat und „Sastrelju“, ich erschieße dich. Und hinter dem Hügel erheben sich Menschen, die aussehen, wie die Nazis sich Partisanen vorstellten. Hätte das Museum diesen Sprachlehrgang ergänzt mit Fotos, die Soldaten von „ihren“ erschossenen Zivilisten gemacht haben und nicht mit einem Sturmgewehr, der Charakter dieses Krieges wäre deutlich geworden. Der Terror war nicht anonym!

Merkwürdig harmlos (oder subversiv?) auch das Kapitel über den Soldatenalltag. In Karlshorst sehen wir, wie Soldaten sich entlausen, Schifferklavier spielen, fernheiraten – und in einem Endlosvideo parallel dazu Verwundete und sogar am Galgen baumelnde Partisanen.

In einer derzeit ebenfalls noch bis Ende Juni in Berlin zu besichtigenden Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über den „Vernichtungskrieg“ aber sind die Fotos von Wehrmacht-Soldaten zu sehen, die alten Juden freudestrahlend die Bärte abschneiden, sie nur zum Spaß erschießen oder am Baum aufknüpfen oder einem russischen Bauern die letzte Kuh aus dem Stall „wegorganisieren“. In Karlshorst ist die bequeme Unterscheidung zwischen Wehrmacht, SS und SD nur für den, der schon weiß oder alle Dokumentenkladden durchblättert, als Lebenslüge einer ganzen Generation erahnbar. In der Hamburger Ausstellung aber ist sie für jeden zu sehen, erst dort wird deutlich, daß unter dem Stichwort „Bandenbekämpfung“ die Wehrmacht sich am Völkermord an den Juden beteiligte.

Der wirkliche Terror, der „Sinn“ dieses Krieges, ist in Karlshorst an einem Computer abfragbar. Früher, im sowjetischen Museum, symbolisierte eine Büchse Zyklon-B den Vernichtungsfeldzug. Jetzt kann jeder mit der Maus in der Hand im Programm „Mord“ herumstöbern, den Vernichtungsfeldzug auf statistischer Ebene noch einmal nachvollziehen. Klick, Kriegsgefangenenlager oder klick, Zwangsarbeiterlager oder klick, Konzentrations- und Vernichtungslager oder klick, Ghetto. Klick-klick, Bauske, Lettland: Anzahl 855, Anzahl der Toten 800, für weitere Informationen bitte klick. Klick, annähernd 800 jüdische Zivilisten aus dem Ghetto Bauske wurden Ende Juli 1941 auf Befehl des lettischen Polizeichefs Hugo V. im Vacalices-Wald erschossen. Für weitere Informationen bitte klick. Klick, 55 Juden wurden sterilisiert. Diejenigen, die sich nach der Operation auf dem Weg der Besserung befanden, wurden erschossen.

Alles ist erfaßt – Ort, Typ, Zuständigkeit, Zeitraum, Häftlinge, Tote, abermillionenfach und dennoch falsch. Das Programm der Endlösung, ein Programm nur für Computer-Kids? Daß für all diese Verbrechen, für die in der Bundesrepublik bis heute lediglich 6.500 Menschen rechtskräftig verurteilt wurden – wegen Tötungsdelikten waren es im Nürnberger Prozeß ganze zwölf –, haben die Ausstellungsmacher allerdings versäumt einzuspeichern.

Museum Berlin-Karlshorst, Rheinsteinstraße, Eintritt frei. Kein Katalog.